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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Meldung zu, es sei abermals ein Traineur (Nachzügler) aus der Zahl der Gefangenen darniedergestürzt und wolle oder könne nicht mehr fort. Ich ritt zurück, um persönlich von dessen Zustand Einsicht zu nehmen, und versuchtees dann bittweise, ihn zum Aufstehen und zum Gehen zu bewegen. Ich versprach hierbei, alle nur mögliche Nachsicht mit ihm haben zu wollen, allein er blieb liegen, ohne mir im mindesten Gehör zu schenken. Der Gedanke, ihn müssen erschießen zu lassen, erfüllte meine Seele mit Schauder; Pflichtgefühl und Menschlichkeit gerieten miteinander in Kampf! Dem Äußeren nach schien derselbe nicht lange mehr leben zu können, seine Brust hob sich krampfhaft auf und nieder verzerrt drehten sich die Augen im Kopf herum, ich befahl also, ihn seinem Schicksal zu überlassen und ritt meinerseits wieder nach der Kolonne.
    Bald aber hatte ich von seiten der Arrièregarde zu hören, wie jener gefallene Russe verschmitzt ihr nachgeschaut, sich zum Entspringen aufgerichtet, jedoch flugs wieder habe zu Boden lassen fallen, als er wahrgenommen, daß man seiner beachte!
    Während ich denselben jetzt fixierte und ein gleiches Manöver an ihm entdeckte, sprengte ich eiligst zurück dorthin und ließ einige Mannschaft mir nachkommen. Wir versuchten es, gewaltsam ihn aufzurichten, aber – er gebärdete sich wie einer, der mit dem Tode ringt, und nahm von nichts Notiz. Es war kein Zweifel mehr, daß sein Zustand bloße Verstellung sei, wie sie schon vielseitig bei dergleichen Transporten zum Vorschein gekommen, um der Haft sich zu entziehen. Da diese Ranzionierten (Freigekommenen) in den nächsten Wald schlüpften und der ersten besten feindlichen Bande sich zugesellten, welche – wie bekannt – den diesseitigen Kommunikationslinien Gefahr drohten und uns oft die empfindlichsten Verluste beibrachten, sah ich ein, daß es, um nicht die Zahl unserer Feinde zu vermehren, kriegsrechtlich sei, dem hier in Rede stehenden nicht ein Leben zu lassen, was den unserigen, ja mir wohl gar selbst noch zum Verderben gereichen könne.
    Bevor ich jedoch zu dem Äußersten schritt, ließ ich nochmals nicht unversucht, ihn teils durch Güte und teils durchGewalt wieder auf die Beine zu bringen. Als aber durchaus das alles vergeblich und ich vollends bedachte, welch einen schädlichen Einfluß dasselbe auf alle übrigen Gefangenen würde haben, die da wähnen mußten, es sei Furcht oder Schwäche von mir, der mir zustehenden Ermächtigung, die ihnen nicht fremd, platzgreifliche Folge zu geben, zumal ich schon einen, der vielleicht ebenso boshaft und verstellungsvoll gewesen wie dieser, begnadigt gehabt, so winkte ich denn das Todesurteil und – es war um ihn geschehen.
    Auf die übrigen Gefangenen, welche aus nicht allzu weiter Ferne dieser Exekution mit zugesehen, schien dieselbe insofern einen augenblicklichen Einfluß zu äußern, daß sie, im Verhältnis ihrer physischen Beschaffenheit, viel rascheren Schrittes darauf losgingen. Sie mochten die Aufmerksamkeit scheuen, die ich auf ihre Traineure jetzt nehmen ließ, und bald tat sich eine andere Entweichungsweise inmitten ihrer Reihen kund: Sie warteten ab, bis wir an einer finstern Stelle im Walde waren, rissen unversehens mit einem kühnen Sprunge seitwärts aus der Kolonne heraus, und die Undurchdringlichkeit des Gehölzes ließ keine weitere Verfolgung zu.«
    Gieße war mit seinem Transport abends in Semlewo angekommen, wo sich eine Relaisstation unter dem Kommando eines Hauptmanns befand. Da diese Station ungewöhnlich reich mit Lebensmitteln versehen war, ließ Gieße an die Gefangenen Brot austeilen, vor allem aber ein warmes Essen, Gemüse mit Fleisch, und ein Strohlager in einer Scheune. Am nächsten Tag ging es weiter: »Meine Gefangenen, davon 4 in der Nacht gestorben, marschierten anfangs ziemlich rührig darauf los. Bloß einer, ein noch ganz junger Bursche, blieb wiederholt unter dem Vorwand, ein gewisses Bedürfnis abtun zu müssen, zurück, kauerte sich aber dabei jedesmal in irgendeinem Gestrüpp dermaßen verdächtig zusammen, daß die achtsame Arrièregarde seine Absicht zu entfliehen enthüllte.
    Zum ersten Male verwies ich demselben, was er sich unterfangen gehabt, und verzieh ihm, desgleichen auch wieder beieinem andern Fall. Als aber im dichten Walde einige zugleich, wie dies schon gestern geschehen, seitwärts aus der Kolonne brachen, indessen durch die Wachsamkeit meiner Mannschaft und Schnellfüßigkeit der Husaren wieder eingeholt oder auf ihrer Flucht

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