Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
Vom Netzwerk:
nicht?« Laurel griff nach ihren Zigaretten, erinnerte sich, dass sie sich in einem Pflegeheim befand, und nahm stattdessen ihre Teetasse. »Mag sein.« Die Vergangenheit ihrer Mutter war für sie im Grunde ein einziges Geheimnis. Warum hatte sie das bisher nie beschäftigt? Sie betrachtete noch einmal das Foto, die beiden jungen Frauen, die über ihre Unwissenheit zu lachen schienen. »Wo hast du das noch mal gefunden, Rose?«, fragte sie, um einen beiläufigen Ton bemüht.
    »In einem Buch.«
    »In was für einem Buch?«
    »Ein Theaterstück – Peter Pan .«
    »Ma hat in einem Theaterstück mitgespielt?« Ihre Mutter hatte immer begeistert Verkleiden gespielt und Scharaden, aber Laurel konnte sich nicht erinnern, dass sie je in einem richtigen Theaterstück mitgewirkt hätte.
    »Das weiß ich nicht. Das Buch war ein Geschenk. Vorne drin stand eine Widmung.«
    »Und was genau steht da?«
    »Für Dorothy.« Rose verschränkte die Finger und versuchte, sich an den Wortlaut zu erinnern. »Und dann: ›Wahre Freundschaft ist ein Licht im Dunkel – Vivien‹.«
    Vivien. Der Name berührte Laurel auf seltsame Weise. Ihr wurde heiß und kalt, und sie spürte ihren Puls in den Schläfen. Eine verwirrende Bilderflut tauchte vor ihrem geistigen Auge auf – eine blitzende Klinge, das angstvolle Gesicht ihrer Mutter, eine rote Schleife, die sich gelöst hatte. Alte Erinnerungen, hässliche Erinnerungen, die der Name der Unbekannten irgendwie freigesetzt hatte … »Vivien«, wiederholte sie lauter als beabsichtigt. »Wer ist Vivien?«
    Rose blickte überrascht auf, aber was auch immer sie hatte antworten wollen, blieb ungesagt, weil Iris plötzlich ins Zimmer gestürmt kam. Beide wandten sich zu ihrer Schwester um, die sich sofort entrüstet darüber ausließ, dass die Parkgebühren für Besucher eine Unverschämtheit seien; und so entging ihnen, wie Dorothy bei der Erwähnung von Viviens Namen nach Luft schnappte und sich ihr Gesicht verzerrte. Als die drei Schwestern sich um das Bett ihrer Mutter versammelten, schien Dorothy friedlich zu schlafen, und ihre Züge ließen nichts davon erahnen, dass sie das Pflegeheim, ihren müden Körper und ihre erwachsenen Töchter verlassen hatte und sich auf eine Zeitreise zurück zu jener finsteren Nacht im Jahr 1941 begeben hatte.

3
    London, Mai 1941
    D orothy Smitham lief die Treppe hinunter und rief Mrs. White ein kurzes »Gute Nacht« zu, während sie sich ihren Mantel überzog. Die Vermieterin blinzelte hinter ihren dicken Brillengläsern, als sie vorbeieilte. Liebend gern hätte die alte Frau einen Plausch angefangen, der zumeist darin bestand, dass sie über ihre unmögliche Nachbarin herzog, aber Dolly ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. Sie warf einen kurzen Blick in den Garderobenspiegel und zwickte sich ein bisschen Farbe in die Wangen. Zufrieden mit dem, was sie sah, öffnete sie die Tür und trat hinaus in die verdunkelte Nacht. Sie hatte es wirklich eilig, denn Jimmy wartete bestimmt schon im Restaurant. Sie hatten so viel zu bereden – was sie mitnehmen mussten, was sie tun würden, wenn sie dort waren, wann sie aufbrechen würden …
    Mit einem freudigen Lächeln langte Dolly in ihre tiefe Manteltasche und fühlte nach der geschnitzten Holzfigur. Sie hatte sie neulich im Fenster des Pfandleihers entdeckt. Eine bunt bemalte Punch-Figur. Sie hatte sie an ihn erinnert, und jetzt, wo London um sie herum in Trümmer fiel, kam es darauf an, alle wissen zu lassen, wie viel sie beide einander bedeuteten. Dolly konnte es kaum erwarten, Jimmy zu treffen – sie konnte sich sein Gesicht genau vorstellen, wie er lächeln würde, wenn sie ihm die Figur überreichte, und wie er ihr sagen würde, wie sehr er sie liebte. Der kleine hölzerne Mr. Punch, ein wichtiger Bestandteil der Volkskultur an der Küste, war nichts Großartiges, aber er war das perfekte Geschenk; Jimmy liebte die Küste. Genau wie sie.
    »Verzeihung?«
    Es war eine Frauenstimme, und sie kam wie aus dem Nichts. »Ja?«, sagte Dolly verwundert. Die Frau musste sie bemerkt haben, als einen kurzen Moment lang schwaches Licht durch die geöffnete Tür auf den Gehweg gefallen war.
    »Verzeihen Sie, können Sie mir helfen? Ich suche die Nummer 24.«
    Obwohl man bei Verdunkelung eigentlich gar nicht auf der Straße sein durfte, zeigte Dolly automatisch auf die Tür hinter sich. »Sie haben Glück«, sagte sie. »Sie stehen direkt davor. Im Moment ist die Pension voll belegt, aber demnächst wird ein Zimmer frei.«

Weitere Kostenlose Bücher