Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
sie an ihm vorbei, stieß mit der Hüfte gegen einen Tisch in ihrer Eile und verschwand in der Kälte und Dunkelheit der vom Krieg heimgesuchten Stadt, ohne sich noch ein einziges Mal umzusehen. Erst nachdem sie Minuten später immer noch nicht zurückgekommen war, begriff Jimmy, was passiert war. Und plötzlich sah er sich wie von oben, mit dem Blick des Fotografen: ein Mann, der alles verloren hatte und allein auf dem schmuddeligen Fußboden eines billigen Restaurants kniete, in dem es plötzlich ganz kalt geworden war.
15
Suffolk, 2011
S päter fragte sich Laurel, wieso sie erst jetzt auf die Idee gekommen war, nach dem Namen ihrer Mutter im Internet zu suchen. Sie wartete nicht, bis sie wieder in Greenacres war. Kaum saß sie auf dem Parkplatz des Pflegeheims in ihrem Auto, nahm sie ihr Smartphone heraus und tippte »Dorothy Smitham« ein. Sie wusste nicht, was sie erwartete, aber die Möglichkeit, dass sie etwas Unerfreuliches zutage förderte, ließ sie einen Moment zögern, bevor sie den »Suche«-Button drückte. Sie landete 127 Treffer. Eine Ahnenforschungs-Seite in den USA , eine Thelma Dorothy Smitham, die Freunde auf Facebook suchte, ein Telefonbucheintrag in Australien, und dann, fast ganz unten auf der Liste, ein Eintrag im » WW 2 People’s War«-Archiv der BBC mit der Unterzeile: »Londoner Telefonistin erinnert sich an den Zweiten Weltkrieg«. Mit zitternden Fingern klickte sie den Beitrag an.
Es handelte sich um die Kriegserinnerungen einer Frau namens Katherine Frances Barker, die während der Bombenangriffe im Kriegsministerium in Westminster als Telefonistin gearbeitet hatte. Den Beitrag hatte, so hieß es in einer Anmerkung, eine Susanna Barker im Namen ihrer Mutter eingereicht. Auf einem Foto war eine rüstige alte Dame zu sehen, die fröhlich lächelnd auf einem himbeerfarbenen, mit Häkeldeckchen dekorierten Velourssofa saß. Die Bildunterschrift lautete:
Katherine »Kitty« Barker in ihrem Wohnzimmer. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, zog Kitty nach London, wo sie bis zum Ende des Kriegs als Telefonistin arbeitete. Kitty hätte sich gern zur Marine gemeldet, aber das Fernmeldewesen wurde als kriegswichtig eingestuft, und sie wurde nicht freigestellt.
Der Artikel war ziemlich lang, und Laurel überflog ihn auf der Suche nach dem Namen ihrer Mutter. Nach mehreren Absätzen fand sie ihn.
Ich war in den Midlands aufgewachsen und hatte keine Angehörigen in London, aber im Krieg wurde ein Dienst eingerichtet, der Unterkünfte für Zivilhelfer suchte. Ich hatte Glück, denn man wies mir ein Zimmer im Haus einer adligen Dame zu, in der Campden Grove Nr. 7 in Kensington. Auch wenn man sich das heute kaum vorstellen kann, so habe ich dort während des Kriegs eine glückliche Zeit verlebt. Neben mir waren noch drei weitere junge Frauen dort untergebracht, außerdem einige von Lady Gwendolyn Caldicotts Bediensteten, die bei Kriegsausbruch in London geblieben waren, eine Köchin und eine junge Frau namens Dorothy Smitham, die als eine Art Gesellschafterin für die alte Dame arbeitete. Dorothy und ich wurden Freundinnen, haben aber den Kontakt verloren, als ich 1941 meinen Mann Tom geheiratet habe. Im Krieg wurden schnell Freundschaften geschlossen – verständlicherweise –, und ich habe mich schon oft gefragt, was aus meinen Freunden aus der Zeit geworden sein mag. Ich hoffe, sie haben den Krieg überlebt.
Laurel schwirrte der Kopf. Unglaublich, welche Auswirkung es auf sie hatte, den Namen ihrer Mutter vor sich im Display zu sehen. Vor allem in einem solchen Dokument, das ausgerechnet über die Zeit und den Ort berichtete, die sie interessierten.
Sie las den Absatz noch einmal.
Dorothy Smitham hatte also tatsächlich existiert. Sie hatte für eine Frau namens Lady Gwendolyn Caldicott gearbeitet und in der Campden Grove Nr. 7 gewohnt (in derselben Straße wie Vivien und Henry Jenkins, wie Laurel auffiel), und sie hatte eine Freundin namens Kitty gehabt. Laurel suchte nach dem Datum, an dem der Bericht ins Netz gestellt worden war: 25. Oktober 2008. Gut möglich, dass diese Freundin noch lebte und bereit war, sich mit Laurel zu unterhalten. Jede Entdeckung war ein weiterer leuchtender Stern am großen, dunklen Himmel, Teil eines Bilds, mit dessen Hilfe Laurel ihren Frieden finden würde.
Susanna Barker lud Laurel ein, am Nachmittag zum Tee vorbeizukommen. Es war so einfach gewesen, Susanna zu finden, dass es Laurel, die nie damit rechnete, dass irgendetwas einfach war, erst einmal suspekt
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