Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
vorkam. Sie hatte die Namen Katherine Barker und Susanna Barker im Online-Telefonbuch eingegeben und dann die entsprechenden Nummern gewählt, das war alles. Bei der dritten Nummer hatte sie Erfolg. »Meine Mutter spielt am Donnerstag Golf, und am Freitag spricht sie vor Schülern in der Schule hier in der Nähe«, sagte Susanna. »Aber heute Nachmittag hätte sie um vier Uhr eine Lücke im Terminkalender. Würde Ihnen das passen?« Laurel hatte ohne zu zögern zugesagt, sich von Susanna eine genaue Wegbeschreibung geben lassen und folgte jetzt einer Landstraße, die sich durch grüne Wiesen außerhalb von Cambridge schlängelte.
Eine mollige, freundliche Frau mit rotem, von der feuchten Luft krausen Haar erwartete sie am Gartentor. Sie trug eine sonnengelbe Strickjacke über einem braunen Kleid und hielt ihren Regenschirm mit beiden Händen umklammert, die ganze Haltung Ausdruck höflicher Beflissenheit. Manchmal drückte eine einzige Geste alles über einen Menschen aus, dachte Laurel, die mit Leib und Seele Schauspielerin war. Die Frau mit dem Regenschirm war nervös, vertrauenswürdig und hilfsbereit.
»Guten Tag«, flötete sie, als Laurel die Straße überquerte und auf sie zukam. »Ich bin Susanna Barker. Ich freue mich ja so, Sie kennenzulernen …«
»Laurel. Laurel Nicolson.«
»Aber ich weiß doch, wer Sie sind. Kommen Sie bitte herein. Scheußliches Wetter, nicht? Meine Mutter sagt, das kommt davon, dass ich gestern im Haus eine Spinne totgeschlagen habe. Wie dumm von mir, ich müsste es wirklich besser wissen. Das bringt Regen, nicht wahr?«
Kitty Barker war eine kleine Person, erstaunlich rüstig und ganz offensichtlich geistig noch überaus rege. »Dolly Smithams Tochter«, sagte sie und schlug mit ihrer Faust auf den Tisch. »Mich laust der Affe! Das ist einmal eine Überraschung!« Als Laurel sich vorstellen und Kitty Barker erklären wollte, wie sie im Internet auf ihren Namen gestoßen war, winkte Kitty ungeduldig ab und fiel ihr ungestüm ins Wort: »Ja, ja, das hat meine Tochter mir alles erzählt – Sie erwähnten es ja bereits am Telefon.«
Laurel, der oft vorgeworfen wurde, sie sei zu schroff, fand die direkte Art der Frau erfrischend. Im Alter von zweiundneunzig war einem wahrscheinlich die Zeit ohnehin zu schade für höfli ches Gewäsch. Sie lächelte und sagte: »Mrs. Barker, meine Mutter hat, als wir Kinder waren, nie viel über den Krieg gesprochen – ich nehme an, sie wollte das alles hinter sich lassen –, aber im Moment geht es ihr nicht gut, und es ist mir wichtig, so viel wie möglich über ihre Vergangenheit zu erfahren. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht ein bisschen über das Leben in London während des Krieges erzählen, vor allem über das Leben meiner Mutter während der Zeit.«
Sie brauchte Kitty Barker nicht zweimal zu bitten. Ohne zu zögern setzte sie zu einem Vortrag über die Zeit der Bombenangriffe an, während ihre Tochter Tee und Scones servierte.
Eine Zeit lang hörte Laurel aufmerksam zu, aber ihre Konzentration ließ deutlich nach, als ihr klar wurde, dass Dorothy Smitham in dieser Geschichte nur eine marginale Rolle spielte. Sie betrachtete die Kriegsmemorabilien an den Wänden des Wohnzimmers, Plakate, die dazu aufriefen, kein Geld zu vergeuden und das Gemüse im eigenen Garten anzubauen.
Während Kitty anschaulich berichtete, wie gefährlich es gewesen war, während der Verdunkelung durch die Straßen zu gehen, verfolgte Laurel den Minutenzeiger der Uhr. Dann wanderte ihr Blick zu Susanna Barker, die ihrer Mutter fasziniert lauschte und jedes Wort mit den Lippen aufzusaugen schien. Kittys Tochter hatte all diese Anekdoten schon tausendmal gehört, dachte Laurel, und plötzlich durchschaute sie die Dynamik – Susannas Nervosität, ihre Eilfertigkeit, die Ehrfurcht, mit der sie von ihrer Mutter sprach. Kitty war das Gegenteil von Laurels Mutter; sie hatte aus ihren Kriegsjahren einen wortreichen Mythos geschaffen, dem ihre Tochter nie würde entrinnen können.
Vielleicht waren alle Kinder in gewisser Weise Gefangene der Vergangenheit ihrer Eltern. Wie sollte Susanna diesen Geschich ten von Heldenmut und Opferbereitschaft je etwas Gleichwertiges entgegensetzen können? Zum ersten Mal war Laurel ihren Eltern geradezu dankbar dafür, dass sie ihren Kindern eine solche Last erspart hatten. (Laurel war eher gefangen vom Nichtwissen über die Geschichte ihrer Mutter.)
Dann trat ein glücklicher Umstand ein: Als Laurel schon fast die Hoffnung
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