Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
aufgegeben hatte, noch irgendetwas Wichtiges zu erfahren, unterbrach Kitty ihren Redefluss und tadelte Susanna, weil sie so lange gebraucht hatte, um den Tee zu servieren. Laurel ergriff die Gelegenheit, das Gespräch wieder auf Dorothy Smitham zu bringen. »Was für eine unglaubliche Geschichte, Mrs. Barker«, sagte sie in einem damenhaften Ton, mit dem sie die berühmte Schauspielerin herauskehrte. »Absolut faszinierend – so viele mutige Menschen. Aber was war mit meiner Mutter? Können Sie mir ein bisschen über sie erzählen?«
Kitty war es offenbar nicht gewohnt, unterbrochen zu werden, und ein verblüfftes Schweigen legte sich über die Teegesellschaft. Kitty neigte den Kopf, als erwartete sie vom lieben Gott eine Erklärung für diesen Affront, während Susanna, die mit zitternden Händen den Tee einschenkte, tunlichst Laurels Blick vermied.
Laurel dachte gar nicht daran, sich verlegen zu geben. Das Kind in ihr frohlockte, weil es ihr gelungen war, Kittys Monolog zu stoppen. Sie mochte Susanna, und ihre Mutter war ein Tyrann; Laurel hatte gelernt, sich gegen Tyrannen zur Wehr zu setzen. »Hat meine Mutter an der Heimatfront Dienst getan?«, fragte sie liebenswürdig.
»Dolly hat ihren Beitrag geleistet«, sagte Kitty widerwillig. »Im Haus gab es einen Dienstplan, in den wir alle eingetragen waren. Wir mussten in Schichten mit einem Eimer Sand und einer Wasserpumpe bewaffnet auf dem Dach sitzen.«
»Und was hat sie in ihrer Freizeit gemacht?«
»Sie hat sich amüsiert, so wie wir alle. Es war schließlich Krieg. Man musste die Feste feiern, wie sie fielen.«
Susanna hielt ihr ein kleines Tablett mit Milch und Zucker hin, aber Laurel lehnte dankend ab. »Wahrscheinlich hatten so junge, hübsche Frauen wie Sie eine Menge Verehrer.«
»Allerdings.«
»Wissen Sie vielleicht, ob es einen gab, den meine Mutter besonders mochte?«
»Ja, es gab einen«, sagte Kitty und trank einen Schluck schwarzen Tee. »Aber ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an seinen Namen erinnern.«
Aber Laurel hatte eine Idee. Ihr fiel der Name wieder ein, nach dem ihre Mutter in letzter Zeit häufiger gefragt hatte, wie sie von der Krankenschwester wusste. »Jimmy«, sagte sie daher aufs Geratewohl. »Hieß der Mann vielleicht Jimmy?«
»Ja!«, rief Kitty aus. »Ja, genau. Jetzt weiß ich es wieder, ich habe sie immer aufgezogen und gesagt, sie hätte ihren persönlichen Jimmy Stewart gefunden. Ich habe ihn aber nie kennengelernt. Ich habe mir nur anhand dessen, was Dolly mir erzählt hatte, ein Bild von ihm gemacht.«
»Sie sind ihm nie begegnet?« Das war merkwürdig. Ihre Mutter und Kitty waren doch Freundinnen gewesen, sie hatten zusammen in einem Haus gewohnt, sie waren jung gewesen – da lernte man doch den Freund der Freundin kennen, oder?
»Nicht ein einziges Mal. Da war sie eigen. Er war Pilot bei der Royal Air Force und hatte kaum Zeit, zu Besuch zu kommen.« Kitty schürzte die Lippen. »Das hat sie jedenfalls immer behauptet.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, mein Tom war bei der Royal Air Force, und der hatte immer Zeit, mich zu besuchen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie setzte ein neckisches Grinsen auf, und Laurel lächelte, um ihr zu signalisieren, dass sie durchaus verstanden hatte.
»Sie meinen also, meine Mutter könnte gelogen haben?«, fragte sie.
»Nicht direkt gelogen, aber sie hat die Wahrheit vielleicht ein bisschen ausgeschmückt. Bei Dolly konnte man das nie so genau wissen. Die hatte eine blühende Fantasie.«
Das wusste Laurel nur zu gut. Trotzdem kam es ihr seltsam vor, dass ihre Mutter den Mann, den sie liebte, ihren Freundinnen vorenthalten haben sollte. Normalerweise verkündeten Verliebte ihren Zustand am liebsten von den Dächern, und Dorothy hatte mit ihren Gefühlen nie hinterm Berg gehalten.
Oder etwas, das Jimmy betraf, hatte es notwendig gemacht, seine Identität geheim zu halten. Das würde auf jeden Fall Dorothys Geheimniskrämerei erklären, und auch, dass sie den Mann, den sie liebte, nicht hatte heiraten können, dass sie vor irgendetwas hatte fliehen müssen. Henry und Vivien mit dem Szenario in Verbindung zu bringen, würde schon schwieriger werden, es sei denn, Henry hatte irgendwie von Jimmy erfahren, und das hatte die nationale Sicherheit gefährdet.
»Dolly hat Jimmy nie mit nach Hause gebracht, weil die alte Dame, bei der wir wohnten, keinen Herrenbesuch gestattete«, sagte Kitty und stach damit ganz beiläufig mit einer Nadel in den Luftballon von
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