Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Dolly entspannte sich ein wenig. Vivien hatte ihm ihren Namen nicht genannt. Vielleicht hatte er ihr seinen ja auch nicht genannt oder ihr erklärt, warum er dort in der Kantine war. Sie bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. »Worüber habt ihr beide euch denn unterhalten?«
»Über den Krieg.« Er zuckte die Schultern und zog nervös an seiner Zigarette. »Das Übliche halt. Du weißt schon.«
Er log, das merkte sie ganz genau – Jimmy war ein schlechter Lügner. Und das Gespräch war ihm unangenehm; er hatte zu schnell geantwortet, und jetzt wich er ihrem Blick aus. Worüber mochten sie bloß gesprochen haben, dass er jetzt so merkwürdig reagierte? Hatte er etwa von ihr, Dolly, gesprochen? O Gott – was hatte er Vivien von ihr erzählt? »Über den Krieg«, wiederholte sie und wartete ab, ob er das weiter ausführen wollte. Er tat es nicht. Sie schenkte ihm ein sprödes Lächeln. »Ein ziemlich allgemeines Thema.«
Der Kellner kam und stellte jedem einen dampfenden Teller hin. »Falsches Fischfilet«, sagte er theatralisch.
» Falsches Fischfilet?«, fragte Jimmy sichtlich enttäuscht.
Die Mundwinkel des Kellners zuckten verlegen. »Artischocken, Sir«, sagte er etwas leiser. »Der Koch baut sie in seinem Garten an.«
Jimmy schaute Dolly ratlos an. So hatte er sich das wirklich nicht vorgestellt, ihr in einer leeren Kaschemme einen Heiratsantrag zu machen, nachdem er ihr panierte Artischocken und sauren Wein präsentiert hatte. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, und die Ringschachtel wog schwer in Jimmys Hosentasche. Er wollte sich nicht mit ihr streiten, er wollte ihr den Ring an den Finger stecken, nicht nur, um sie damit an sich zu binden – obwohl er das natürlich herbeisehnte –, sondern weil die Geste etwas Gutes und Wahres symbolisierte. Er stocherte in seinem Essen herum.
Schlimmer hätte er es nicht vermasseln können. Er hatte keine Ahnung, wie er die Situation retten konnte. Und Dolly war sauer, weil sie ahnte, dass er ihr etwas verschwieg; aber die Frau, Vivien, hatte ihn gebeten, niemandem zu sagen, was sie ihm erzählt hatte. Ja, sie hatte ihm regelrecht ins Gewissen geredet, und etwas an ihrem Blick hatte ihn dazu gebracht, den Mund zu halten und zu nicken. Er tunkte ein Stück Artischocke in die traurige weiße Soße.
Aber vielleicht hatte sie ja gar nicht Dolly gemeint. So musste es sein – die beiden waren schließlich Freundinnen. Wahr scheinlich würde Dolly lachen, wenn er es ihr erzählte, sie würde abwinken und ihm sagen, dass sie es längst gewusst hatte. Jimmy trank einen Schluck Wein, während er darüber nachdachte und sich fragte, was sein Vater in einer solchen Situation getan hätte. Vermutlich hätte sein Vater sich an das Versprechen gehalten, das er der Frau gegeben hatte. Andererseits – wie war es ihm am Ende ergangen? Er hatte die Frau verloren, die er geliebt hatte. Jimmy wollte nicht, dass ihm dasselbe widerfuhr.
»Deine Freundin«, sagte er beiläufig, als hätte es kein peinliches Schweigen gegeben. »Vivien. Sie hat eins von meinen Fotos gesehen.«
Dolly schaute ihn an, sagte jedoch nichts.
Jimmy schluckte, verscheuchte alle Gedanken an seinen Vater, die Vorträge über Mut und Respekt, die er ihm gehalten hatte, als er noch ein Junge war. Heute Abend hatte er keine Wahl, er musste Dolly die Wahrheit sagen. Und wenn er sich’s recht überlegte – welchen Schaden konnte er damit schon anrichten? »Es war ein Foto von einem kleinen Mädchen, dessen Familie neulich in Cheapside bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen ist. Es war traurig, Doll, schrecklich traurig. Die Kleine lächelte, weißt du, und sie trug …« Er hielt inne, als er sah, dass Dolly bereits die Geduld verlor. »Unwichtig. Was ich dir eigentlich erzählen wollte – deine Freundin kannte das Kind. Sie hat das Mädchen auf dem Foto erkannt.«
»Was?«
Es war das erste Wort, das sie sagte, seit das Essen gekommen war, und auch wenn es nicht so klang, als hätte sie ihm ganz und gar verziehen, fiel Jimmy ein Stein vom Herzen. »Sie meinte, sie ist mit einem Arzt befreundet, der in Fulham eine kleine Privatklinik betreibt. Einen Teil der Klinik hat er für Kriegswaisen zur Verfügung gestellt, und sie hilft ihm manchmal. Da hat sie Nella kennengelernt, das kleine Mädchen auf dem Foto. Man hatte das Kind in dieses Heim gebracht, nachdem sich niemand gemeldet hatte, zu dem es gehörte.«
Dolly sah ihn gespannt an, wartete darauf, dass er fortfuhr, aber er wusste nicht,
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