Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
bringen.«
Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt, und Dolly sah Kitty und Louisa auf der anderen Straßenseite, die gerade von der Arbeit nach Hause kamen. Kitty schaute herüber, und ihr Mund öffnete sich zu einem »Oh!«, als sie begriff, was da vor sich ging. Dolly hatte keine Chance, ein Lächeln aufzuset zen oder Kitty zuzuwinken, um die Situation zu retten. Wie auch, wo alles verloren war? Wo all ihre Träume, all ihre Hoffnungen grausam zerstört worden waren.
17
Universität Cambridge, 2011
D er Regen hatte nachgelassen, und helles Mondlicht brach silbrig durch die streifigen Wolken. Nach ihrem Besuch in der Universitätsbibliothek von Cambridge saß Laurel vor der Kapelle des Clare College und wartete. Die Abendandacht war fast zu Ende; seit einer halben Stunde saß sie auf der Bank unter dem Kirschbaum und genoss die Klänge der großen Orgel und des Chors. Jeden Moment würde die Musik aufhören, und die Menschen würden aus der Kapelle treten, zu ihren Fahrrädern gehen und in alle möglichen Richtungen davonradeln. Einer davon, so hoffte Laurel, würde Gerry sein. Die Liebe zur Musik hatte sie schon immer verbunden, und als sie bei ihrer Ankunft in Cambridge am College die Schilder mit der Ankündigung der Abendandacht gesehen hatte, war ihr klar gewesen, dass sie ihren Bruder am wahrscheinlichsten bei der Kapelle erwischen würde.
Wenige Minuten, nachdem Benjamin Brittens »Rejoice in the Lamb« verklungen war und die Leute paarweise oder in kleinen Grüppchen die Kapelle verließen, kam wie erwartet einer allein heraus. Eine große, schlaksige Gestalt oben auf der Treppe, deren Anblick Laurel ein Lächeln entlockte, denn es war eins der schönsten Dinge im Leben, mit einem Menschen so vertraut zu sein, dass man ihn selbst am anderen Ende eines unbeleuchteten Innenhofs sofort erkannte. Die Gestalt stieg auf ein Fahrrad, drückte sich mit einem Fuß ab, schlingerte kurz und nahm dann Fahrt auf.
Laurel trat aus dem Schatten auf die Straße, winkte und rief seinen Namen. Beinahe hätte er sie umgefahren, doch er kam noch rechtzeitig zum Stehen und blinzelte sie im Mondlicht an. Als sich ein entwaffnendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, fragte sich Laurel, warum sie ihn eigentlich nicht häufiger besuchte.
»Hallo Lol«, sagte er. »Was machst du denn hier?«
»Ich wollte dich sehen. Hab versucht, dich anzurufen. Ich hab dir mehrmals auf den AB gesprochen.«
Gerry schüttelte den Kopf. »Das Ding hat überhaupt nicht mehr aufgehört zu blinken, das hat mich ganz verrückt gemacht. Ich glaub, das Gerät ist kaputt. Ich hab den Stecker rausgezogen.«
Die Erklärung war so typisch für Gerry, dass Laurel ihm unmöglich böse sein konnte. »Tja«, sagte sie lächelnd. »So hatte ich wenigstens einen Vorwand herzukommen und dich zu besuchen. Hast du schon gegessen?«
»Gegessen?«
»Nahrung zu dir genommen. Ziemlich lästig, ich weiß, aber ich versuche, mich ein paarmal am Tag daran zu halten.«
Er fuhr sich durch das dunkle Haar, als versuchte er, sich zu erinnern.
»Komm«, sagte Laurel. »Ich lade dich ein.«
Gerry ging neben ihr her und schob sein Fahrrad. Auf dem Weg zu einer kleinen Pizzeria gegenüber dem Arts Theatre unterhielten sie sich über Musik. Genau in dem Theater, erinnerte sich Laurel, hatte sie als junges Mädchen Harold Pinters Geburtstagsfeier gesehen.
Die Pizzeria war schummrig beleuchtet, in Windlichtgläsern flackerten Kerzen auf den mit rot-weiß karierten Tischtüchern bedeckten Tischen. Der Laden war voll, aber ganz hinten, neben dem Pizzaofen, fanden Laurel und Gerry noch einen freien Tisch. Laurel hängte ihren Mantel auf. Ein junger Kellner mit langem blonden Haar, das ihm in die Augen hing, kam an ihren Tisch. Sie bestellten Pizza und Wein. Innerhalb weniger Minuten brachte der Kellner den Chianti und zwei Gläser.
»Und?«, sagte Laurel, während sie beide Gläser füllte. »Darf ich fragen, woran du zurzeit arbeitest?«
»Heute habe ich einen Artikel über das Fressverhalten von Teenager-Galaxien fertiggestellt.«
»Die sind wohl ziemlich gefräßig, was?«
»Kann man so sagen.«
»Und älter als dreizehn, schätze ich mal.«
»Ein bisschen. Sie sind etwa drei bis fünf Milliarden Jahre nach dem Urknall entstanden.«
Laurel hörte ihrem Bruder zu, während er ihr begeistert von dem gigantischen Teleskop der Europäischen Südsternwarte in Chile erzählte (»Es ist für uns dasselbe wie ein Mikroskop für einen Biologen«) und ihr
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