Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
überraschen.«
»Ich hatte ja keine Ahnung …«
»Woher auch? Das ist ja gerade das Besondere an Überraschungen, nicht wahr?« Er nahm sie am Ellbogen und drehte sie so, dass sie ins Zimmer schaute. »Wo wir gerade von Überraschungen sprechen. Du hast einen Gast. Miss Smitham ist gekommen, um dich zu besuchen.«
Dolly erhob sich, ihr Herz raste. Endlich war ihr Moment gekommen.
»Deine Freundin und ich haben uns angeregt unterhalten. Über die viele Arbeit, die du beim Freiwilligendienst leistest«, fuhr Henry fort.
Vivien blinzelte, ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. »Ich kenne diese Frau nicht.«
Dolly stockte der Atem. Das Zimmer um sie herum begann sich zu drehen.
»Aber Liebling«, sagte Henry. »Ich bitte dich. Miss Smitham hat das hier für dich gebracht.« Er zog die Halskette aus der Hosentasche und legte sie seiner Frau in die Hand. »Du musst sie irgendwo abgelegt und vergessen haben.«
Vivien drehte das Medaillon um, klappte es auf und betrachtete die darin enthaltenen Fotos. »Woher haben Sie meine Halskette?«, fragte sie mit einer Kälte, die Dolly zusammenzucken ließ.
»Ich …« Dollys Gedanken rasten. Sie begriff nicht, was vor sich ging, warum Vivien sich so benahm; nach all den Blicken, die sie ausgetauscht hatten, Blicken, in denen ihre ganze Seelenverwandtschaft zum Ausdruck gekommen war. Wie oft hatten sie nicht einander vom Fenster aus beobachtet, was hatte Dolly sich nicht alles für ihre gemeinsame Zukunft ausgemalt! War es möglich, dass Vivien nichts verstanden hatte, dass ihr gar nicht klar war, was sie füreinander bedeuteten? Hatte sie nicht auch von dem Gespann Dolly und Viv geträumt? »Sie ist in der Kantine gefunden worden. Mrs. Hoskins hat sie gefunden und mich gebeten, sie Ihnen zurückzugeben, da wir ja …« Da wir ja beste Freundinnen sind, Seelenverwandte . »Da wir ja Nachbarinnen sind.«
Vivien hob ihre perfekten Brauen und schaute Dolly an. Sie schien einen Augenblick zu überlegen, dann hellte sich ihre Miene kaum merklich auf. »Aber ja, jetzt weiß ich es! Sie ist das Dienstmädchen von Lady Gwendolyn.«
Bei dem Wort Dienstmädchen warf sie Henry einen vielsagenden Blick zu, und sein Verhalten Dolly gegenüber änderte sich schlagartig. Dolly musste daran denken, wie er über ihr eigenes Dienstmädchen gesprochen hatte, die junge Frau, die sie entlassen mussten, weil sie sie beim Stehlen erwischt hatten. Er betrachtete das kostbare Schmuckstück und sagte: »Sie ist also gar nicht deine Freundin?«
»Ich bitte dich«, sagte Vivien, als wäre ihr allein die Vorstellung zuwider. »Du kennst doch alle meine Freundinnen, Henry, Liebling.«
Er sah seine Frau verwundert an, dann nickte er steif. »Es kam mir gleich merkwürdig vor, aber sie war sehr überzeugend.« Dann wandte er sich mit vor Zweifel und Verdruss gerunzelter Stirn Dolly zu. Er war enttäuscht von ihr, das war nicht zu übersehen, schlimmer noch, in seinem Blick lag unver hohlene Abneigung. »Miss Smitham«, sagte er, »ich danke Ihnen, dass Sie die Halskette meiner Frau abgegeben haben, aber es ist jetzt Zeit, dass Sie gehen.«
Dolly fiel nichts ein, was sie hätte erwidern können. Sie träumte das doch bloß, oder? Das war nicht das, was sie erwartet hatte, was sie verdient hatte, wie sie sich ihr Leben vorstellte. Sie würde jeden Augenblick aufwachen und mit Vivien und Henry über all das lachen, sie würden Whisky trinken und über die schwierigen Zeiten plaudern und sich über Mrs. Waddingham amüsieren, und Henry würde sie beide liebevoll anlächeln und sagen, was für ein Gespann sie doch wären, ein unwiderstehlich reizendes Gespann.
»Miss Smitham?«
Sie nickte zaghaft, nahm ihre Handtasche und eilte an den beiden vorbei in die Eingangshalle.
Henry Jenkins folgte ihr und riss nach kurzem Zögern die Haustür weit auf. Dann versperrte er ihr den Weg mit dem Arm, und Dorothy blieb nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben und darauf zu warten, dass er sie gehen ließ. Er schien zu überlegen, was er sagen sollte.
»Miss Smitham?«, sagte er in einem Ton, als redete er mit einem Kind, schlimmer noch: mit einem Dienstmädchen, das vergessen hatte, wo sein Platz war, das von einem Leben geträumt hatte, das ihm nicht zustand. Dolly brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen; ihr war schwindlig. »Gehen Sie, seien Sie ein braves Mädchen«, sagte er schließlich. »Kümmern Sie sich um Lady Gwendolyn und versuchen Sie, sich nicht wieder in Schwierigkeiten zu
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