Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Und zwar das ihre – sofern man es denn als Zimmer bezeichnen konnte. Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete ein Streichholz an.
»Dolly?«
Dolly spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Die Besitzerin der Stimme kam näher. Als die Frau fast vor ihr stand, sagte sie: »Ach, Sie sind es, Dolly, Gott sei Dank! Es ist …«
»Vivien?« Plötzlich erkannte sie die Stimme; sie war ihr so vertraut, und doch klang sie irgendwie verändert.
»Ich dachte schon, ich würde Sie vielleicht verpassen. Dass ich zu spät kommen würde.«
»Wofür zu spät?« Dolly war verunsichert. Sie waren doch an diesem Abend gar nicht verabredet gewesen. »Was ist denn los?«
»Nichts …« Vivien begann zu lachen, und das Geräusch, metallisch und verstörend, ließ Dolly erschaudern. »Das heißt, alles.«
»Sind Sie betrunken?« Dolly hatte Vivien noch nie so erlebt; verschwunden war der schöne Schein der Eleganz, die perfekte Selbstbeherrschung.
Vivien antwortete nicht, jedenfalls nicht direkt. Die Nachbarskatze sprang von einer Mauer und landete mit einem Rums auf dem Kaninchenstall. Vivien zuckte zusammen, dann flüsterte sie: »Wir müssen reden – jetzt gleich .«
Um Zeit zu gewinnen, nahm Dolly einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Normalerweise hätte sie nichts lieber getan, als sich mit ihrer Freundin zusammenzusetzen und sich gegenseitig das Herz auszuschütten, aber nicht jetzt, nicht heute Abend. Sie wollte unbedingt los. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich wollte gerade …«
»Dolly, bitte .«
Dolly griff in ihre Tasche und befühlte das kleine hölzerne Geschenk. Jimmy war bestimmt längst da; er würde sich fragen, wo sie blieb, jedes Mal erwartungsvoll zur Tür sehen, wenn sie aufging. Es widerstrebte ihr, ihn warten zu lassen, gerade jetzt … Aber da stand Vivien vor ihr, so ernst, so nervös, schaute sich immer wieder ängstlich um, bedrängte sie und beteuerte, es sei wichtig, dass sie redeten … Dolly seufzte resigniert. Sie konnte Vivien nicht einfach stehen lassen, nicht, wo die Ärmste so aufgewühlt war.
Sie sagte sich, dass Jimmy das verstehen würde, dass er Vivien mit der Zeit auch irgendwie mögen würde. Und dann traf sie die Entscheidung, die sich für sie alle als verhängnisvoll erweisen sollte. »Kommen Sie«, sagte sie, drückte ihre Zigarette aus und fasste Vivien an ihrem dünnen Arm. »Gehen wir rein.«
Vielleicht war Vivien ja gekommen, um sich zu entschuldigen, dachte Dolly, als sie die Treppe hochgingen. Nur so konnte sie sich erklären, warum sie derart aus dem Häuschen war, warum sie jede Contenance verloren hatte: Vivien, eine wohlhabende Frau aus der Oberschicht, war es nicht gewohnt, sich zu entschuldigen. Der Gedanke machte Dolly nervös. In ihren Augen war eine Entschuldigung nicht nötig, und außerdem war die ganze traurige Geschichte längst Vergangenheit. Am liebsten hätte sie nie wieder ein Wort darüber verloren.
Am Ende des Flurs angekommen, schloss Dolly ihr Zimmer auf. Die nackte Glühbirne flackerte kurz, als sie das Licht einschaltete, und tauchte das schmale Bett, den kleinen Schrank und das rissige Waschbecken mit dem tropfenden Wasserhahn in schummriges Licht. Einen Moment lang schämte sie sich, als sie ihr Zimmer mit Viviens Augen betrachtete. Wie kärglich war diese Bleibe im Vergleich zu der prächtigen Villa in der Campden Grove mit ihren Kronleuchtern und Zebrafellen, in der Vivien wohnte.
Dolly zog ihren alten Mantel aus und hängte ihn an den Haken hinter der Tür. »Tut mir leid, dass es hier drinnen so warm ist«, sagte sie gespielt leichthin. »Keine Fenster, leider … macht die Verdunkelung leichter, aber das Lüften umso schwerer.« Sie wollte die Atmosphäre ein bisschen auflockern, aber es funktionierte nicht. Das Einzige, woran sie denken konnte, war, dass Vivien hinter ihr stand und nach etwas suchte, worauf sie sich setzen konnte – oje. »Ich fürchte, es gibt auch keinen Stuhl.« Schon seit Wochen wollte sie sich einen besorgen, aber in diesen schlimmen Zeiten und wo Jimmy und sie jeden Penny sparten, hatte sie sich schließlich entschlossen, mit dem auszukommen, was sie hatte.
Sie drehte sich um, und als sie Viviens Gesicht sah, vergaß sie alle Probleme mit ihrer Einrichtung. »O Gott«, sagte sie mit großen Augen, als sie die Verletzungen im Gesicht der anderen sah. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Nichts.« Vivien, die im Zimmer auf und ab ging, winkte ungeduldig ab. »Ein Unfall
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