Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
auf dem Weg hierher. Ich bin gegen einen Laternenmast gelaufen. Dumm von mir, ich hatte es mal wieder zu eilig.« Es stimmte, Vivien ging immer zu schnell. Es war eine Marotte, die Dolly eigentlich immer an ihr gemocht hatte – es amüsierte sie, so eine kultivierte, elegant gekleidete Frau umhereilen zu sehen wie ein junges Mädchen. Aber heute Abend war alles irgendwie anders. Viviens Kleider passten nicht zusammen, sie hatte eine Laufmasche in einem Strumpf, ihre Haare waren zerzaust … »Kommen Sie«, sagte Dolly und bugsierte sie in Richtung Bett, froh, dass sie es am Morgen so sorgfältig gemacht hatte. »Setzen Sie sich.«
Im selben Augenblick ertönte der Fliegeralarm, und sie fluch te leise. Das hatte ihnen gerade noch gefehlt. Der Luftschutzkeller unterm Haus war ein Albtraum: die unerträgliche Enge, die feuchte Bettwäsche, der modrige Geruch, Mrs. Whites hysterische Anfälle. Und jetzt Vivien in diesem Zustand …
»Kümmern Sie sich einfach nicht darum«, sagte Vivien, als hätte sie Dollys Gedanken gelesen, noch dazu in einem Ton, als wäre sie die Hausherrin, gewohnt, Anweisungen zu erteilen. »Bleiben Sie hier. Das hier ist wichtiger.«
Wichtiger, als in den Luftschutzkeller zu gehen? Dollys Herz raste. »Geht es um das Geld?«, fragte sie. »Wollen Sie es zurückhaben?«
»Nein, nein, vergessen Sie das Geld.«
Das Heulen der Sirene war ohrenbetäubend, und es erfüllte Dolly mit einer inneren Unruhe, gegen die sie nicht ankam. Sie konnte nicht genau sagen, warum, doch sie hatte einfach Angst. Sie wollte nicht hier sein, noch nicht einmal mit Vivien. Sie wollte durch die dunklen Straßen laufen zu dem Restaurant, wo Jimmy auf sie wartete. »Jimmy und ich …«, setzte sie an, doch Vivien fiel ihr ins Wort.
»Ja«, sagte sie, und ihre Miene hellte sich auf, als hätte sie sich gerade an etwas erinnert. »Ja, Jimmy.«
Dolly schüttelte verwirrt den Kopf. Jimmy? Sie wusste nicht, was Vivien meinte. Vielleicht sollte sie sie einfach mitnehmen – sie könnten es schaffen, wenn sie schnell liefen, während noch alle auf dem Weg zu den Luftschutzräumen waren. Sie würden zu Jimmy gehen – er würde wissen, was zu tun war …
»Jimmy«, sagte Vivien noch einmal, diesmal etwas lauter. »Er ist fort.«
Erneut ertönte die Sirene, und das Wort »fort« hallte im Zimmer wider. Dolly wartete darauf, dass Vivien weitersprach, doch in dem Augenblick klopfte es heftig an der Tür. »Doll – bist du da?« Das war Judith, die auch in der Pension wohnte, außer Atem, weil sie die Treppe hochgerannt war. »Wir gehen runter in den Luftschutzraum.«
Dolly antwortete nicht, und weder sie noch Vivien machten Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Sie wartete, bis die Schritte auf dem Flur verklungen waren, dann setzte sie sich neben ihre Freundin. »Sie müssen sich irren«, sagte sie atemlos. »Ich habe ihn gestern getroffen, und ich bin auch heute Abend mit ihm verabredet. Wir wollen zusammen von hier fort. Er würde nie ohne mich gehen …« Sie hätte noch so viel mehr sagen können, aber das tat sie nicht. Vivien schaute sie an, und etwas in ihrem Blick bohrte einen Stachel des Zweifels in Dollys Gewissheit. Sie nestelte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich mit zitternden Fingern an.
Dann begann Vivien zu erzählen, und während die ersten Bomben fielen, fragte sich Dolly, ob es möglich war, dass ihre Freundin recht hatte. Es schien undenkbar, aber Viviens eindringlicher Ton, ihre Nervosität und das, was sie da sagte … Dolly fühlte sich wie betäubt. Es war heiß im Zimmer. Sie bekam kaum noch Luft.
Sie sog gierig an ihrer Zigarette, während Fragmente von Viviens Bericht sich mit ihren eigenen rasenden Gedanken mischten. Eine Bombe schlug in der Nähe ein, auf die gewaltige Explosion folgte ein lautes Zischen, das das ganze Zimmer erfüllte, bis Dollys Ohren schmerzten und sich ihr die Nackenhaare sträubten. Anfangs hatte sie es genossen, draußen zu sein, wenn die Bomben fielen – sie hatte es aufregend gefunden und überhaupt keine Angst gehabt. Aber sie war kein dummes kleines Mädchen mehr, diese sorglosen Zeiten schienen unendlich lange her zu sein. Sie schaute zur Tür, wünschte, Vivien würde aufhören zu reden. Sie sollten entweder in den Luftschutzkeller oder zu Jimmy gehen; sie sollten nicht auf ihrem Bett sitzen bleiben und abwarten. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Sie wollte sich nur noch verstecken, in Luft auflösen.
Während Dolly immer mehr in Panik
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