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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Enttäuschungen. Mrs. White, die verwitwete Besitzerin der Pension am Rillington Place Nr. 24, freute sich, Dolly wiederzusehen (wobei von »sehen« kaum die Rede sein konnte, denn die alte Schachtel war ohne ihre Brille blind wie eine Fledermaus), und teilte ihr begeistert mit, dass ihr ehemaliges Zimmer noch zu haben sei – sofern Dolly ihr Bezugsscheinheft aushändigte, aber das verstehe sich ja von selbst.
    Kein Wunder, dass das Zimmer noch frei war. Selbst im kriegsgebeutelten London gab es garantiert nicht viele Wohnungssuchende, die verzweifelt genug waren, ihr gutes Geld für das Privileg herzugeben, in diesem Loch wohnen zu dürfen. Eigentlich war es gar kein richtiges Zimmer, sondern man hatte in ein ehemaliges großes Zimmer eine Wand eingezogen und es auf diese Weise in zwei ungleiche Hälften geteilt. Das einzige Fenster befand sich auf der anderen Seite der dünnen Wand. Dollys engere Hälfte des Zimmers glich eher einem Wandschrank; sie bot gerade genug Platz für ein schmales Bett, ein Nachtschränkchen und ein kleines Waschbecken. Aber wegen des fehlenden Fensters war es billig, außerdem besaß Dolly nicht viel, was sie unterbringen musste – all ihre Habseligkeiten befanden sich in dem Koffer, den sie mitgenommen hatte, als sie vor drei Jahren ihr Elternhaus verlassen hatte.
    Nach ihrer Ankunft in der Pension hatte sie als Erstes ihre beiden Bücher – Die widerspenstige Muse und ihr Ideenbuch – auf das Regalbrett über dem Waschbecken gestellt. Eigentlich hatte sie sich geschworen, Jenkins’ Buch nie wieder eines Blickes zu würdigen, aber es gab so wenig, das sie ihr Eigen nennen konnte, und sie hing so sehr an dem wenigen, was sie besaß, dass sie es einfach nicht fertigbrachte, sich von dem Buch zu trennen. Jedenfalls noch nicht. Sie drehte das Buch um, sodass es mit dem Rücken zur Wand stand. Aber das Ganze sah immer noch ziemlich traurig aus, deswegen fügte Dolly noch die Leica- Kamera hinzu, die Jimmy ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Doch das kleine Zimmer war noch immer so kahl, dass sie am liebsten eine hübsche Kommode aufgestellt hätte. Schließlich hängte sie den Pelzmantel, den sie geerbt hatte, an den Haken hinter der Tür: So konnte sie ihn immer sehen. Der alte weiße Mantel war zum Symbol ihrer zerplatzten Träume geworden, und Wut stieg jedes Mal in ihr auf, wenn sie das gute Stück betrachtete, Wut auf Vivien Jenkins.
    Dolly begann, in einer nahe gelegenen Munitionsfabrik zu arbeiten, denn Mrs. White hätte keinen Augenblick gezögert, sie hinauszuwerfen, falls sie ihre wöchentliche Miete nicht bezahlte. Wenn sie abends nach Hause kam, aß sie widerwillig ein bisschen von Mrs. Whites Labskaus und zog sich, während die anderen jungen Frauen miteinander kicherten und über ihre Freunde tratschten oder mit irgendeinem Lord Soundso telefonierten, in ihre Kammer zurück, legte sich aufs Bett und rauchte ihre letzten Päckchen Zigaretten, während sie über alles nachdachte, was sie verloren hatte: ihre Familie und Lady Gwendolyn und Jimmy … Immer wieder erinnerte sie sich daran, wie Vivien gesagt hatte: »Ich kenne diese Frau nicht«, und wie Henry Jenkins ihr die Tür gewiesen hatte, und jedes Mal überkamen sie von Neuem die Scham und die Wut, die sie in dem Moment empfunden hatte.
    So ging es tagein, tagaus, bis zu einem Abend Mitte Februar. Der Tag war wie jeder andere verlaufen: Dolly hatte eine doppelte Schicht in der Munitionsfabrik gearbeitet und war dann zum Abendessen ins nahe gelegene British Restaurant gegangen, weil sie den Fraß, den Mrs. White ihr vorsetzte, nicht mehr ertragen konnte. Sie war an ihrem Tisch in der Ecke sitzen geblieben, bis das Restaurant zumachte, hatte geraucht und die anderen Gäste beobachtet, vor allem die jungen Paare, die sich über den Tisch hinweg küssten und miteinander lachten, als wäre die Welt um sie her in bester Ordnung. Sie konnte sich vage erinnern, dass sie sich selbst einmal so gefühlt hatte, dass sie voller Lachen und Glück und Hoffnung gewesen war.
    Auf dem Heimweg nahm sie eine Abkürzung durch eine schmale Gasse. In der Ferne war das Dröhnen von Bomberflugzeugen zu hören. Und dann war sie in der Dunkelheit gestolpert (sie hatte ihre Taschenlampe in dem Haus in der Campden Grove zurückgelassen – auch das: Viviens Schuld!) – und war in einen Bombenkrater gestürzt. Sie hatte sich den Knöchel verstaucht, und ihr Knie blutete, aber das Schlimmste war ihr verletzter Stolz. Den Weg bis zu Mrs. Whites

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