Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
wechselte sie das Thema. »Bist du gestern Abend gut nach Hause gekommen?«
»Ja. Allerdings ein bisschen später als geplant.« Es war drei Uhr früh gewesen, als sie endlich die Tür aufgeschlossen hatte. Nach dem Essen war sie noch mit zu Gerry gegangen, und sie hatten sich noch stundenlang über ihre Mutter und Henry Jenkins den Kopf zerbrochen. Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, dass Gerry versuchen sollte, diesen Dr. Rufus ausfindig zu machen, während Laurel es in Angriff nahm, etwas über die geheimnisvolle Vivien in Erfahrung zu bringen. Sie war das Bindeglied zwischen ihrer Mutter und Henry Jenkins und wahrscheinlich der Grund, warum Jenkins 1961 gekommen war, um mit Dorothy Nicolson abzurechnen.
Gestern Abend war ihr all das absolut machbar erschienen, aber jetzt, bei Tageslicht besehen, war sich Laurel da nicht mehr so sicher. Der ganze Plan war so wenig greifbar wie ein Traum. Sie schaute auf ihr nacktes Handgelenk und fragte sich, wo sie ihre Uhr gelassen hatte. »Wie spät ist es eigentlich, Rosie? Es kommt mir so hell vor.«
»Kurz nach zehn.«
Zehn? O Gott. Sie hatte verschlafen. »Rosie, ich muss Schluss machen, aber ich komme auf direktem Weg ins Pflegeheim. Bist du noch da?«
»Ich bin bis Mittag hier, dann muss ich Sadies Jüngste aus dem Kindergarten abholen.«
»Okay. Dann bis gleich – wir reden gemeinsam mit dem Arzt.«
Rose saß bereits mit dem Arzt zusammen, als Laurel im Pflegeheim eintraf. Die Schwester am Empfang sagte Laurel, sie werde erwartet, und schickte sie in die Cafeteria. Rose musste nach ihr Ausschau gehalten haben, denn sie begann zu winken, kaum dass Laurel die Cafeteria betreten hatte. Laurel ging zwischen den Tischen hindurch, und als sie näher kam, sah sie, dass Rose weinte. Der Tisch war mit zerknüllten Papiertaschentüchern übersät, und um ihre Augen war schwarze Wimperntusche verschmiert. Laurel setzte sich neben sie und legte einen Arm um sie.
»Ich habe Ihrer Schwester gerade erklärt«, sagte der Arzt in genau dem professionellen, fürsorglichen Ton, den Laurel angeschlagen hätte, wenn sie eine Ärztin hätte spielen müssen, die schlechte Nachrichten überbrachte, »dass wir meiner Meinung nach alle unsere Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Ich denke, es wird Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen sage, dass wir jetzt nichts anderes mehr tun können, als ihre Schmerzen zu lindern und es ihr so angenehm wie möglich zu machen.«
Laurel nickte. »Meine Schwester hat mir gesagt, dass meine Mutter nach Hause möchte, Dr. Cotter. Ist das möglich?«
»Damit hätten wir kein Problem.« Er lächelte. »Wenn sie es vorziehen würde, hier im Heim zu bleiben, würden wir natürlich auch diesem Wunsch entsprechen. Die meisten unserer Patienten bleiben bis zum Ende bei uns.«
Bis zum Ende. Rose suchte unter dem Tisch Laurels Hand.
»Aber wenn Sie bereit sind, sie zu Hause zu pflegen …«
»Das sind wir«, sagte Rose schnell. »Selbstverständlich sind wir das.«
»… dann wäre sicherlich jetzt der richtige Zeitpunkt, Ihre Mutter mit nach Hause zu nehmen.«
Laurel kribbelte es in den Fingern, sich eine Zigarette anzuzünden. »Unsere Mutter hat nicht mehr lange«, sagte sie. Es war eher eine Feststellung als eine Frage, Ausdruck ihres Verarbeitungsprozesses, aber der Arzt antwortete trotzdem.
»Tja, auch als Arzt erlebt man natürlich immer wieder Überraschungen«, sagte er, »aber um Ihre Frage zu beantworten: Nein, sie hat nicht mehr lange.«
»London«, sagte Rose, als sie über den gesprenkelten Linoleumboden des Korridors zum Zimmer ihrer Mutter gingen. Eine Viertelstunde war vergangen, seit sie sich von dem Arzt verabschiedet hatten, aber Rose hielt immer noch ein aufgeweichtes Papiertaschentuch in der Hand. »Ein Arbeitstreffen also?«
»Arbeit? Welche Arbeit? Ich hab dir doch gesagt, ich habe mir eine Auszeit genommen, Rose.«
»Ich wünschte, du würdest so etwas nicht sagen, Lol. Du machst mich ganz nervös, wenn du so etwas sagst.« Rose hob eine Hand, um eine vorbeieilende Krankenschwester zu grüßen.
»Wenn ich was sage?«
»Dass du dir eine Auszeit genommen hast, ausgerechnet du.« Rose blieb stehen und schüttelte sich so heftig, dass ihre Lockenpracht erzitterte. Sie trug eine Latzhose aus Jeansstoff mit einer Brosche in Form eines Spiegeleis. »Das passt einfach nicht zu dir, das ist nicht normal. Und du weißt ja, dass ich keine Veränderungen mag – sie machen mich nervös.«
Laurel musste lachen. »Mach dir keine
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