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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Stelle mit der Fingerspitze. Ihre Wangen glühten, als sie an den Tag dachte, als sie das Medaillon zurückgebracht hatte.
    Dann ließ sie das Bild auf den Boden fallen, lehnte sich gegen das Bett und schloss die Augen.
    In ihrem Kopf drehte sich alles. Ihr Knie schmerzte. Sie war erschöpft.
    Die Augen immer noch geschlossen, kramte sie ihre Zigaretten aus der Tasche, zündete sich eine an und rauchte frustriert.
    Es war alles noch so frisch. Zum hundertsten Mal lief der fatale Nachmittag vor ihrem geistigen Auge ab – Henry Jenkins, der ihr unerwartet öffnete, die Fragen, die er ihr gestellt hatte, sein Misstrauen in Bezug auf den Aufenthaltsort seiner Frau.
    Was wäre geschehen, fragte sich Dolly, wenn sie ein bisschen länger allein gewesen wären? Sie war drauf und dran gewesen, ihm zu erklären, wie das mit der Schichteinteilung in der Kantine funktionierte. Was, wenn sie es getan hätte? Was, wenn sie die Chance gehabt hätte zu sagen: »Aber nein, Mr. Jenkins, ich fürchte, das ist unmöglich. Ich weiß nicht, was Vivien Ihnen erzählt, aber sie arbeitet höchstens einmal die Woche in der Kantine.«
    Aber das hatte Dolly nicht gesagt, nichts davon. Sie hatte ihre einzige Chance verpasst, Henry Jenkins klarzumachen, dass er sich nichts einbildete; dass seine Frau Dinge tat, die ihm nicht gefallen würden. Sie hatte ihre einzige Chance verpasst, Vivien Jenkins als Urheberin dieses Riesenschlamassels bloßzustellen. Denn jetzt konnte Dolly schlecht zu Henry Jenkins gehen und ihm alles erzählen. Wahrscheinlich würde er Dolly nicht mal eines Blickes würdigen, jetzt wo er sie – Vivien sei Dank – für eine Diebin hielt, jetzt wo sie vollkommen verarmt war, und vor allem, solange sie keine Beweise hatte.
    Es hatte keinen Zweck – Dolly stieß sehr langsam Rauch aus. Solange sie Vivien nicht in den Armen eines Mannes erwischte, der nicht ihr Ehemann war, solange sie Henry Jenkins kein Foto von den beiden Liebenden unter die Nase reiben konnte, hatte es alles keinen Zweck. Und Dolly hatte keine Zeit, sich in dunklen Gassen auf die Lauer zu legen, sich Zugang zu irgendwelchen Kliniken zu verschaffen und sich Vivien an die Fersen zu heften, um sie irgendwann in flagranti zu erwischen. Vielleicht, wenn sie wüsste, wo und wann Vivien sich mit diesem Arzt traf. Aber wie sollte sie das herausfinden …
    Plötzlich richtete Dolly sich auf. Es war so einfach, dass sie am liebsten laut gelacht hätte. Sie prustete los. Die ganze Zeit kochte sie vor Wut über all die Ungerechtigkeit, grübelte darüber nach, wie sie es Vivien heimzahlen konnte, und dabei lag die perfekte Gelegenheit direkt vor ihrer Nase.

19
    Greenacres, 2011
    S ie sagt, sie will nach Hause.«
    Laurel hielt mit einer Hand das Handy ans Ohr und tastete mit der anderen auf dem Nachttisch nach ihrer Brille. Der Anruf hatte sie aus dem Schlaf geholt. »Was will sie?«
    Übertrieben langsam und deutlich sagte Rose am anderen Ende der Leitung: »Sie hat es mir heute Morgen gesagt. Sie will nach Hause. Nach Greenacres.« Pause. »Raus aus dem Pflegeheim.«
    »Aha.« Laurel schob sich die Brillenbügel am Handy vorbei hinter die Ohren und blinzelte aus dem Fenster. Gott, war es hell draußen. »Sie will also nach Hause. Und der Arzt? Was sagt der dazu?«
    »Ich werde mit ihm reden, sobald er seine Visite beendet hat, und … ach, Lol.« Ganz leise fügte sie hinzu: »Die Schwester hat mir gerade gesagt, sie denkt, es ist Zeit.«
    Allein in ihrem ehemaligen Kinderzimmer, betrachtete Laurel die von der Morgensonne beschienene Tapete und seufzte. Es war Zeit? Sie brauchte nicht zu fragen, was die Schwester damit gemeint hatte. »Na dann.«
    »Ja.«
    »Dann muss sie also nach Hause.«
    »Ja.«
    »Wir kümmern uns dann hier um sie.« Als ihre Schwester nicht reagierte, sagte Laurel: »Rose?«
    »Ich bin noch dran. Meinst du das ernst, Lol? Du wirst also bleiben? Du wirst auch da sein?«
    Laurel antwortete mit einer Zigarette im Mund, die sie sich gerade anzünden wollte. »Natürlich meine ich das ernst.«
    »Du klingst so komisch. Weinst du etwa?«
    Sie schüttelte das Streichholz aus und nahm die Zigarette aus dem Mund. »Nein, ich weine nicht.« Schweigen in der Leitung. Laurel konnte beinahe hören, wie ihre Schwester sich um sie sorgte. Etwas sanfter sagte sie: »Es geht mir gut, Rose. Es wird alles gut. Gemeinsam kriegen wir das hin, du wirst schon sehen.«
    Rose machte ein kleines, ersticktes Geräusch, vielleicht zustimmend, vielleicht zweifelnd. Dann

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