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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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machen können –, aber er war es nicht. Als Dolly durch die mit Klebeband gesicherte Fensterscheibe nach unten spähte, sah sie Vivien Jenkins vor der Tür stehen, die sich nervös umschaute, als wäre es unter ihrer Würde, bei Lady Gwendolyn zu klingeln, und peinlich, vor der Nr. 7 gesehen zu werden. Dolly spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss, denn sie hatte natürlich sofort gewusst, was Vivien wollte. Es war genau die Art Gemeinheit, die Dolly inzwischen von ihr erwartete: Sie war gekommen, um Lady Gwendolyn über die diebischen Absichten ihres »Dienstmädchens« aufzuklären. Dolly konnte sich genau vorstellen, wie Vivien mit kühler Eleganz in dem mit Chintz bezogenen Sessel neben dem Bett der alten Dame Platz nahm, ihre schlanken Beine übereinanderschlug und mit bedauerndem Kopfschütteln beklagen würde, dass heutzutage auf das Dienstpersonal einfach kein Verlass mehr war. »Es ist geradezu unmöglich, vertrauenswürdige Mädchen zu finden, nicht wahr, Lady Gwendolyn? Erst kürzlich mussten wir die bedauerliche Erfahrung machen …«
    Während Dolly Vivien beobachtete, die sich immer noch nervös nach allen Seiten umsah, hatte die alte Dame von ihrem Bett aus gezetert: »Dorothy, ich lebe nicht mehr ewig. Also, wer ist es?« Bemüht, sich ihre Ängstlichkeit nicht anmerken zu lassen, hatte Dolly mit gespielt argloser Miene geantwortet, es sei nur eine zerlumpte Frau, die Altkleider sammelte. Und als Lady Gwendolyn mit einem verächtlichen Schnauben gesagt hatte: »Machen Sie bloß nicht auf! Die lasse ich mit ihren dreckigen Fingern gewiss nicht in mein Ankleidezimmer!«, hatte Dolly ihr nur beipflichten können.
    Ein Peitschenknall ließ Dolly zusammenzucken. Ohne sich dessen bewusst zu werden, war sie zum Fenster gegangen und hatte mit leerem Blick zur Nr. 25 hinübergeschaut. Als sie sich zum Bett umdrehte, sah sie, dass Lady Gwendolyn sie anfunkelte. Ein dickes Pfefferminzbonbon in einer Backe, schlug die alte Dame mit ihrem Stock knallend auf die Matratze, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
    »Ja, Lady Gwendolyn?«
    Die alte Dame umschlang sich mit den Armen und tat so, als würde sie frieren.
    »Ist Ihnen kalt?«
    Ein Nicken.
    Dolly unterdrückte einen Seufzer und setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf – sie hatte die Decke eben erst zurückgeschlagen, weil Lady Gwendolyn sich über die Hitze beklagt hatte – und ging zum Bett. »Dann wollen wir doch mal sehen.«
    Lady Gwendolyn schloss die Augen, und Dolly wollte beginnen, sie zuzudecken, merkte aber, dass das leichter gesagt war als getan. Die alte Dame hatte sich so unruhig im Bett hin und her gewälzt, dass sich das ganze Bettzeug verknäuelt hatte. Dolly ging um das Bett herum und zog mit aller Kraft an dem Laken, um es zu befreien.
    Später würde sie den Staub für das verantwortlich machen, was dann passierte. Aber in dem Moment war sie viel zu sehr damit beschäftigt, an dem Bettzeug zu ziehen und zu zerren, um es zu bemerken. Nachdem sie das Laken endlich unter Lady Gwendolyns schwerem Leib hervorgezerrt hatte, schüttelte sie es aus und deckte die alte Dame damit bis zum Kinn zu. Als sie gerade das Laken über die Decke zurückschlug, musste sie heftig niesen.
    Lady Gwendolyn riss vor Schreck die Augen auf.
    Dolly entschuldigte sich und rieb sich die juckende Nase. Sie blinzelte, um wieder klar sehen zu können, und da bemerkte sie, dass die alte Dame wie wild mit den Armen fuchtelte.
    »Lady Gwendolyn?«, sagte sie und beugte sich vor. Das Gesicht der alten Dame war puterrot angelaufen. »Lady Gwendolyn, was ist passiert?«
    Ein Röcheln entrang sich der Kehle der Lady, und ihr Gesicht war fast blau. Wild gestikulierend zeigte sie auf ihren Hals. Irgendetwas hinderte sie am Sprechen …
    Das Pfefferminzbonbon, dachte Dolly entsetzt; es steckte ihr im Hals wie ein Pfropfen. Ohne nachzudenken steckte sie ihr einen Finger in den Hals und versuchte, das Bonbon zu ent fernen.
    Es gelang ihr nicht.
    Dolly geriet in Panik. Vielleicht würde es helfen, der alten Dame auf den Rücken zu klopfen?
    Mit pochendem Herzen versuchte sie, Lady Gwendolyn aufzurichten, aber ihr massiger Körper war zu schwer und das seidene Nachthemd zu glatt … »Ganz ruhig«, hörte Dolly sich sagen, während sie versuchte, die Situation in den Griff zu bekommen. »Das haben wir gleich.«
    Sie sagte es immer wieder, während sie mit aller Kraft versuchte, die mit den Armen rudernde alte Dame auf den Bauch zu drehen. »Das haben wir gleich, es wird

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