Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Vaters.«
»Was?«, brüllte der Neffe so plötzlich, dass ihm sein Zigarrenstummel aus dem Mund fiel. »Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«
»Bitte, Lord Wolsey«, stotterte Mr. Pemberly. »I-i-ich muss Sie bitten, s-s-s-sich zu beruhigen.«
»Ich verklage Sie, Sie elender Wurm. Ich weiß genau, dass Sie das meiner Tante ins Ohr geflüstert …«
»Lord Wolsey, b-b-b-bitte!«
Ermutigt durch ein freundliches Nicken von Dolly fuhr Mr. Pemberly mit der Verlesung des Testaments fort. »›Mein Restvermögen, einschließlich meines Hauses in der Campden Grove Nr. 7, London, mit Ausnahme einiger noch zu benennender Gegenstände, vermache ich dem Tierheim Kensington.‹« Mr. Pemberly blickte auf. »Dessen Repräsentant heute leider nicht anwesend sein kann …« Mehr hörte Dolly nicht, weil die Glocken des Verrats in ihrem Kopf alles übertönten.
Natürlich hatte Lady Gwendolyn auch etwas für ihre »junge Gesellschafterin« hinterlassen, aber Dolly war so schockiert, dass sie nichts davon mitbekam. Erst spät am Abend, als sie, allein in ihrem Zimmer, den Brief las, den Mr. Pemberly ihr hastig in die zitternden Hände gedrückt hatte, während er sich vor dem tobenden Lord Wolsey in Sicherheit brachte, erfuhr sie, dass sie unter anderem mehrere Mäntel und Jacken aus Lady Gwendolyns Ankleidezimmer geerbt hatte. Dolly erkannte die aufgelisteten Kleidungsstücke sofort. Mit Ausnahme eines bereits ziemlich abgetragenen weißen Pelzmantels hatte sie sie alle längst weggegeben – aus dem Haus geschmuggelt in der großen Hutschachtel, die sie bei der von Vivien Jenkins organisierten Altkleidersammlung so stolz überreicht hatte.
Dolly war außer sich vor Wut. Nach allem, was sie für die Alte getan hatte, nach all den Demütigungen, die sie über sich hatte ergehen lassen – sie hatte ihr die Zehennägel gefeilt, die Ohren gesäubert und sich dafür auch noch beschimpfen lassen müssen. Vielleicht hatte sie das alles nicht gerade bereitwillig ertragen – nein, das konnte sie nicht behaupten –, aber ertragen hatte sie es, und gewiss nicht, um jetzt leer auszugehen. Für Lady Gwendolyn hatte sie alles aufgegeben; sie hatte geglaubt, sie wäre für die alte Dame zu einer Art Tochter geworden; sie war in dem Glauben bestärkt worden, sie würde eine große Erbschaft machen – und zwar nicht nur von Mr. Pemberly, sondern auch von Lady Gwendolyn selbst. Dolly konnte sich nicht erklären, was dazu geführt haben könnte, dass Lady Gwendolyn es sich noch einmal anders überlegt hatte.
Das heißt … Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Dollys Hände begannen zu zittern, und das Schreiben des Anwalts segelte zu Boden. Natürlich, es passte alles zusammen. Vivien Jen kins, dieses hinterhältige Weibsstück, hatte Lady Gwendolyn doch noch aufgesucht; es war die einzig mögliche Erklärung. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit an ihrem Fenster gesessen, auf eine günstige Gelegenheit gewartet und einen der seltenen Momente abgepasst, in denen Dolly wohl oder übel das Haus hatte verlassen müssen, um Besorgungen zu machen. Da hatte Vivien zugeschlagen. Sie hatte sich zu Lady Gwendolyn ans Bett gesetzt und ihr lauter Lügenmärchen über Dolly erzählt, die doch immer nur das Beste für die alte Dame gewollt hatte.
Die erste Handlung der Leitung des Kensingtoner Tierheims als neuer Eigentümer des Hauses in der Campden Grove Nr. 7 war ein Schreiben ans Kriegsministerium, in dem man verlangte, dass den derzeit in der Villa untergebrachten Schreibkräften eine andere Bleibe beschafft wurde. Das Haus sollte so schnell wie möglich zu einer Tierklinik mit angeschlossenem Tierheim umgebaut werden. Für Kitty und Louisa war das kein Problem, denn beide hatten Anfang Februar innerhalb weniger Tage ihre Piloten von der Royal Air Force geheiratet; die anderen beiden jungen Frauen, die im Leben so unzertrennlich gewesen waren, blieben es auch im Tod, als sie am Abend des 30. Januar Arm in Arm zu einem Ball in Lambeth unterwegs waren und von einer Bombe getroffen wurden.
Damit blieb nur noch Dolly übrig. Es war nicht leicht, in London ein Zimmer zu finden, erst recht nicht für eine junge Frau, die sich an das annehmliche Leben in einem hochherrschaftlichen Haus gewöhnt hatte. Dolly sah sich drei schäbige Zimmer an, dann zog sie wieder in die Pension in Notting Hill ein, wo sie vor zwei Jahren gewohnt hatte, als Campden Grove für sie nur ein Name auf dem Stadtplan gewesen war und nicht das Symbol ihrer Träume und
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