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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Pension musste sie humpelnd bewältigen, und als sie endlich vor der Tür stand, war diese bereits abgeschlossen. Mrs. White nahm die Ausgangssperre sehr genau; nicht um zu verhindern, dass Hitler England eroberte, sondern um an denjenigen unter ihren liederlichen Mieterinnen, die sich die Nächte um die Ohren schlugen, ein Exempel zu statuieren. Dolly ballte die Fäuste und humpelte in die angrenzende Seitenstraße. Ihr Knie tat höllisch weh, sie verzog vor Schmerz das Gesicht, als sie über die Mauer kletterte. Wegen der Verdunkelung war es noch finsterer als gewöhnlich, und der Mond war hinter Wolken verborgen, aber irgendwie schaffte sie es durch den zugewucherten Garten hinter dem Haus bis zum Fenster der Vorratskammer mit dem schlecht schließenden Riegel. So leise wie möglich drückte Dolly mit der Schulter dagegen, bis das Fenster nachgab und sie sich durch die Öffnung zwängen konnte.
    Im Flur roch es nach altem Fett und Corned Beef. Mit angehaltenem Atem stieg sie die Treppe hoch. Im ersten Stock angekommen, bemerkte sie einen dünnen Lichtstreifen unter Mrs. Whites Tür. Niemand wusste so genau, was sich hinter dieser Tür abspielte, nur dass Mrs. White fast immer erst das Licht ausmachte, wenn alle Mieterinnen im Haus waren. Womöglich kommunizierte sie mit den Toten oder schickte heimlich Funksprüche an die Deutschen, Dolly wusste es nicht, und es interessierte sie auch nicht. Solange die Hauswirtin beschäftigt war, bis alle Mieterinnen den Weg zurück ins Haus gefunden hatten, waren alle zufrieden. Auf leisen Sohlen, darauf bedacht, auf keine quietschende Diele zu treten, ging Dolly den Flur hinunter und schlüpfte in ihr Zimmer.
    Erst als sie sich mit dem Rücken gegen ihre verschlossene Tür lehnte, gab Dolly sich dem Schmerz hin, der sich den ganzen Abend über in ihrer Brust aufgestaut hatte. Die Handtasche noch immer umgehängt, weinte sie wie ein Kind; heiße Tränen der Scham, des Schmerzes und der Wut liefen ihr über die Wangen. Sie betrachtete ihre schmutzigen Kleider, ihr aufgeschlagenes Knie, das Blut, das sich mit Dreck vermischt und überall verteilt hatte. Mit tränenverschleierten Augen ließ sie den Blick durch ihre kleine Kammer wandern, sah die löchrige Bettdecke, das Waschbecken mit braunen Flecken um den Abfluss herum, und plötzlich wurde ihr schmerzlich bewusst, dass es in ihrem Leben nichts Gutes oder Schönes mehr gab. Und sie wusste, dass das alles Vivien Jenkins’ Schuld war – alles : dass sie Jimmy verloren hatte, dass sie in Armut lebte, dass sie diese stupide Arbeit in der Munitionsfabrik verrichten musste. Selbst ihr Sturz heute Abend – das aufgeschlagene Knie, die zerrissenen Strümpfe, die verschlossene Tür, die Demütigung, durch das Fenster der Vorratskammer klettern zu müssen, um in ein schäbiges Zimmer zu gelangen, für das sie nicht wenig Miete bezahlte. All das wäre nie passiert, wenn Dolly Vivien nie begegnet wäre, wenn sie sich nicht bereit erklärt hätte, ihr die Halskette zurückzubringen, wenn sie sich nicht bemüht hätte, einer Frau, die es nicht verdient hatte, eine gute Freundin zu sein.
    Dann fiel ihr Blick auf ihr Ideenbuch. Als sie den nach innen gedrückten Rücken des Buchs sah, überkam sie eine unbändige Traurigkeit. Sie riss das Buch vom Regal, setzte sich damit auf den Boden und blätterte mit zitternden Fingern bis zu den Seiten mit den Fotos von Vivien Jenkins, die sie so liebevoll eingeklebt hatte. Wie oft hatte sie diese Bilder betrachtet, sich jedes Detail eingeprägt und dem Stil dieser Frau nachgeeifert. Sie konnte es nicht fassen, wie dumm sie gewesen war, wie sehr sie sich hatte hinters Licht führen lassen.
    Wutentbrannt riss Dolly die Seiten aus dem Buch. Wie ein wildes Tier zerfetzte sie die Bilder dieser Frau in winzige Schnipsel, ließ ihre ganze Wut an dem Papier aus. Diese arrogante, geheimnistuerische Art, wie Vivien Jenkins in die Kamera schaute – ratsch! – dieses zurückhaltende Lächeln – ratsch! – wie würde es ihr wohl gefallen, wie ein Stück Abfall behandelt zu werden – ratsch!
    Dolly wollte gerade das nächste Bild zerreißen – sie hätte die ganze Nacht so weitermachen können –, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie erstarrte, hob das Foto in ihrer Hand dichter vor die Augen, hielt den Atem an – ja, da war es.
    Auf einem der Bilder war zu sehen, dass das Medaillon aus Viviens Bluse herausgerutscht war und jetzt schief auf ihrem seidenen Rüschenkragen lag. Dolly berührte die

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