Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Direktors, Vivien Longmeyer, kennen, zu diesem Zeitpunkt siebzehn Jahre alt und eine große Schönheit. Jenkins beschrieb diese Begegnung in Die widerspenstige Muse , einem seiner erfolgreichsten Romane, der zugleich eine dezidierte Abkehr vom zuweilen kruden Naturalismus seines Frühwerks darstellt.
Wie Vivien Jenkins es empfunden haben mag, die Einzelheiten ihrer Romanze und der ersten Ehejahre öffentlich beschrieben zu sehen, bleibt ein Rätsel, ebenso wie die Frau selbst. Die junge Mrs. Jenkins hatte kaum damit begonnen, Spuren in der Welt zu hinterlassen, als ihr Leben auf tragische Weise während eines Bombenangriffs in London ein Ende fand. Dank der grenzenlosen Bewunderung ihres Mannes für seine »widerspenstige Muse« ist immerhin bekannt, dass sie eine Frau von bemerkenswerter Anmut und Anziehungskraft war, für die Jenkins’ Gefühle vom ersten Moment entbrannt waren.
Es folgte ein ziemlich langes Zitat aus Die widerspenstige Muse , in dem Henry Jenkins mit schwelgerischen Worten beschrieb, wie er seine junge Frau kennengelernt und um sie geworben hatte. Da Laurel erst kürzlich das komplette Buch durchlitten hatte, überschlug sie das Zitat und las dort weiter, wo der Biograf Viviens Leben beschrieb:
Vivien Longmeyer war die Tochter von Jonathan Carlyons einziger Schwester Isabel, die nach dem Ersten Weltkrieg mit einem australischen Soldaten durchbrannte. Neil und Isabel Longmeyer ließen sich in der kleinen Holzfällergemeinde Tamborine Mountain im südöstlichen Queensland nieder. Vivien war das zweitjüngste von vier Kindern. Ihre ersten acht Lebensjahre verbrachte Vivien Longmeyer unter den bescheidenen Bedingungen einer Siedlerexistenz, bis sie nach England geschickt wurde, wo sie die Schule ihres Onkels mütterlicherseits besuchen sollte, die dieser auf dem weitläufigen Anwesen der Familie gegründet hatte.
Miss Katy Ellis, eine namhafte Pädagogin, erhielt den Auftrag, das Kind auf der Überfahrt von Australien nach England im Jahr 1929 zu begleiten. Katy Ellis berichtet von dem Mädchen in ihren eigenen Lebenserinnerungen, Zum Lehren geboren . Dort heißt es, dass die Begegnung mit dem Kind ihr Interesse an der Erziehung traumageschädigter junger Menschen weckte, ein Thema, das sie zeitlebens beschäftigt hat.
»Die australische Tante des Mädchens hatte mich, als sie mich als Begleitperson einstellte, darauf hingewiesen, dass das Kind ›nicht sehr helle‹ sei und ich mich nicht wundern solle, falls es während der Reise mir gegenüber verschlossen bliebe. Ich war zwar jung und daher nicht in der Position, die Einschätzung der Frau, was die geistigen Fähigkeiten des Mädchens betraf, infrage zu stellen, aber ich vertraute auf meine Intuition und ließ mich nicht von ihrem Urteil beeinflussen. Vivien Longmeyer war keineswegs ›dumm‹, das konnte ich auf den ersten Blick feststellen, aber ich sah auch, was ihre Tante dazu veranlasst hatte, sie so einzuschätzen. Vivien besaß eine Fähigkeit, die einem bisweilen Unbehagen verursachen konnte, die Fähigkeit, längere Zeit vollkommen still dazusitzen, und das mit einer Miene, die durchaus nicht ausdruckslos war, sondern im Gegenteil: eher wie beseelt von aufwühlenden Gedanken. Dennoch war sie in solchen Momenten auf eine Weise in sich gekehrt, die jedem, der sie beobachtete, das Gefühl vermitteln musste, aus ihrer Welt ausgeschlossen zu sein.
Ich hatte selbst als Kind eine blühende Phantasie; häufig wurde ich von meinem Vater, einem protestantischen Pastor, zurechtgewiesen, weil ich Tagträumen nachhing und Tagebuch schrieb – eine Angewohnheit, die ich bis heute beibehalten habe –, und ich erkannte sehr bald, dass Vivien sich eine innere Welt geschaffen hatte, in die sie sich bei Bedarf zurückziehen konnte. Außerdem erschien es nur natürlich und verständlich, dass ein Kind, das auf einen Schlag seine Familie, sein Zuhause und sein Heimatland verloren hatte, aus purem Überlebenswillen die wenigen übrig gebliebenen Gewissheiten seiner Identität zu bewahren suchte, indem es sie verinnerlichte.
Im Verlauf unserer langen Schiffsreise gelang es mir, Viviens Vertrauen so weit zu gewinnen, dass ich eine Beziehung zu ihr aufbauen konnte, die viele Jahre währen sollte. Bis zu ihrem tragischen und frühzeitigen Tod im Krieg standen wir in regelmäßigem Briefkontakt, und auch wenn ich nie offiziell ihre Lehrerin gewesen bin, so freut es mich doch, sagen zu können, dass wir Freundinnen wurden. Sie hatte nicht viele Freunde: Sie
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