Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Buch zu, als wollte sie verhindern, dass die Hauptfigur ihr daraus entgegensprang. Sie wollte nicht noch mehr über Henry Jenkins’ Überzeugung lesen, dass seine Frau Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war, und auch nicht über seinen Schwur, den Schuldigen aufzuspüren. Das äußerst unangenehme Gefühl drängte sich ihr auf, dass er genau das getan hatte und dass sie, Laurel, aus erster Hand wusste, wie die Sache ausgegangen war. Denn die Person, die Henry Jenkins für den Tod seiner Frau verantwortlich machte, musste ihre Mutter gewesen sein, Dorothy, mit ihrem »perfekten Plan«, oder etwa nicht? Sie, die sich von Vivien etwas »zurückholen« wollte, um das sie sich betrogen fühlte, und die Vivien an den Ort gelockt hatte, wo sie ums Leben gekommen war, einen Ort, den sie andernfalls nie aufgesucht hätte.
Ein Schauder schüttelte Laurel. Sie sah sich um. Sie fühlte sich plötzlich beobachtet. Das waren Schuldgefühle, wurde ihr bewusst, als ginge es hier um eine Art Sippenhaft. Sie dachte an ihre Mutter im Pflegeheim, die Reue, die sie zum Ausdruck gebracht hatte, ihre Bemerkung, dass sie sich etwas »genommen« habe, dass sie dankbar sei, eine zweite Chance bekommen zu haben … All das waren einzelne Sterne am dunklen Nachthimmel, die sich allmählich zu einem Sternenbild zusammenfügten, ob Laurel das Bild nun gefiel oder nicht.
Sie betrachtete den unscheinbaren schwarzen Einband des Buchs. Ihre Mutter kannte alle Antworten, aber sie war nicht die Einzige gewesen; Vivien hatte sie auch gekannt. Bisher war Vivien nicht mehr als ein Schatten gewesen, ein lächelndes Gesicht auf einem Foto, ein Name unter einer Widmung in einem alten Buch, ein vergangenes Leben, das ohne Laurels Nachforschungen längst dem Vergessen anheimgefallen wäre.
Aber sie war wichtig.
Auf einmal war sich Laurel ganz sicher, dass das, was an Dorothys Plan schiefgelaufen war, mit Vivien zu tun hatte. Irgendetwas am Charakter dieser Frau sagte ihr, dass ihre Mutter sich nie mit ihr hätte einlassen dürfen.
Katy Ellis hatte das Kind Vivien als geradezu liebenswürdig beschrieben. Kitty Barker hingegen hatte die erwachsene Vivien als ein »hochnäsiges Weibsstück« bezeichnet, »kalt wie ein Fisch«, als eine Person, die einen schlechten Einfluss auf Dorothy ausgeübt hatte. Hatte Vivien in ihrer Kindheit derart gelitten, dass etwas in ihr zerbrochen war, dass sie sich verhärtet hatte und den Menschen mit Kälte und Arroganz begegnete? Dass Jenkins, wie sein Biograf behauptete, den Tod seiner Frau nie verwunden hatte, dass er jahrzehntelang nach der Person gesucht hatte, die für ihren Tod verantwortlich war, ließ auf jeden Fall darauf schließen, dass diese Frau eine sehr starke Anziehungskraft besessen hatte.
Laurel kam eine Idee. Sie schlug das Buch wieder auf und blätterte es durch, bis sie die Seite gefunden hatte. Da war es. Sie notierte sich den Namen »Katy Ellis« und darunter den Titel ihrer Memoiren: Zum Lehren geboren . Vivien mochte nicht viele Freunde gehabt haben, aber sie hatte Katy Ellis Briefe geschrieben – Briefe, in denen sie ihr vielleicht ihr Innerstes anvertraut hatte (oder erhoffte Laurel sich zu viel?). Es war durchaus denkbar, dass diese Briefe noch existierten: Die meisten Menschen hoben ihre Korrespondenz nicht auf, aber Laurel wollte wetten, dass Miss Katy Ellis, die bekannte Pädagogin und Verfasserin von Tagebüchern und Memoiren, nicht dazu gehörte.
Denn je länger Laurel darüber nachdachte, umso deutlicher kristallisierte sich eins heraus: Vivien war der Schlüssel zum Rätsel. Nur indem sie mehr über diese schwer greifbare Frau in Erfahrung brachte, würde sie herausfinden, wie Dorothys Plan ausgesehen hatte; und vor allem, wie und warum er nicht funk tioniert hatte. Laurel lächelte. Sie hatte das Gefühl, einem flüch tigen Schatten endlich Konturen geben zu können.
Teil 3
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Vivien
22
Tamborine Mountain, Australien, 1929
V ivien wurde vor allem deshalb bestraft, weil sie das Pech gehabt hatte, ausgerechnet vor Mr. McVeighs Laden in der Main Street erwischt zu werden. Sonst hätte ihr Vater es nicht getan, das war jedermann klar. Er war ein weichherziger Mann, daran hatte auch der Krieg nichts geändert, und es wusste sowieso jeder, dass er die Eskapaden seiner Jüngsten im Grunde bewunderte. Aber Regeln waren nun einmal Regeln, und Mr. McVeigh schäumte und verkündete: »Wer mit der Rute spart, verzieht das Kind«, und die Leute blieben stehen, und es war verteufelt
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