Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Holdstock aufgelöst, Jenkins weigerte sich allerdings bis zuletzt, sich zu Einzelheiten zu äußern. Im Jahr 1938 schließlich heiratete er Vivien Longmeyer, die Nichte seines Klassenlehrers in Nordstrom. Trotz des Altersunterschieds von zwanzig Jahren betrachtete Jenkins diese Ehe »als die Krönung meines Lebens«. Das Paar zog nach London, wo es ein glückliches Jahr verbrachte, bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach. Während des Kriegs arbeitete Jenkins für das Informationsministerium, wo er sich wiederum durch hervorragende Leistung auszeichnete. Allen Hennessy sagte: »Alles, was [Jenkins] anfasste, wurde zu Gold. Er war sportlich, intelligent, charmant …«
Wie dem auch sei, die Welt meint es nicht immer gut mit Männern wie Jenkins. Nach dem Tod seiner jungen Frau bei einem Luftangriff in den letzten Wochen der Bombardierungen verfiel Jenkins in tiefe Trauer, und sein Leben geriet aus den Fugen. Er sollte kein weiteres Buch mehr veröffentlichen. Über die Frage, ob er je wieder etwas geschrieben hat, ist bis heute ebenso wenig bekannt wie über andere Einzelheiten seines letzten Lebensjahrzehnts. Als er 1961 starb, war Henry Ronald Jenkins’ Stern schon so verblasst, dass sein Tod selbst den Zeitungen, die ihn einst als literarische Entdeckung gefeiert hatten, kaum noch eine Erwähnung wert war. In den frühen Sechzigerjahren kam der Verdacht auf, Jenkins stecke hinter den Sittlichkeitsvergehen, die dem sogenannten »Stalker von Suffolk« zur Last gelegt wurden, wenn diese Anschuldigungen auch nie bewiesen werden konnten. Aber unabhängig davon, ob Jenkins mit den Vorfällen in Suffolk zu tun hatte oder nicht, zeigt die Tatsache, dass ein einst so berühmter Mensch überhaupt Gegenstand solcherart Verdächtigungen werden konnte, wie tief sein Fall tatsächlich war. Jenkins, dem als Jungen einst von seinem Schulleiter die Fähigkeit attestiert wurde, »alles zu erreichen, was er sich in den Kopf gesetzt hat«, starb mittellos und ohne Nachkommen. Für die Bewunderer von Henry Jenkins bleibt die Frage, wie ein Mann, dem einst die Welt offenstand, ein solches Ende finden konnte; ein Ende, das tragische Ähnlichkeit mit dem seiner Romanfigur Walter Harrison aufweist, dem das Schicksal ebenfalls einen einsamen Tod bescherte nach einem Leben, das geprägt war von großer Liebe und schwerem Verlust.
Laurel lehnte sich zurück und atmete tief durch. Bisher enthielt der Text nichts, was sie nicht bereits bei ihrer Internetrecherche in Erfahrung gebracht hatte. Und bei der Beschreibung von Jenkins’ schmachvollem Ende war mit keinem Wort der Name Dorothy Nicolson oder ein Bauernhaus namens Greenacres er wähnt worden. Gott sei Dank. Was sie verwunderte, war, wie posi tiv Jenkins als Mensch dargestellt wurde. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie gehofft, etwas zu finden, das den abgrundtiefen Hass rechtfertigen würde, den sie mit der Zeit entwickelt hatte.
Laurel blätterte zurück zur Frontispiz-Seite, wo ein Foto von Jenkins abgedruckt war, um den »charmanten« und »charismatischen« Schriftsteller genauer zu betrachten, als der er im Vorwort beschrieben wurde. Auf dem Foto im Buch war Jenkins jünger als auf dem, das sie im Internet gefunden hatte, und Laurel musste zugeben, dass er sehr gut aussah. Er erinnerte sie mit seinen scharf geschnittenen, kantigen Zügen an einen Schauspielerkollegen, in den sie einmal verliebt gewesen war. Sie hatten in den Sechzigerjahren in einem Tschechow-Stück gemeinsam auf der Bühne gestanden und eine stürmische Affäre gehabt. Die Be ziehung war nicht von Dauer gewesen – wie die meisten Lieb schaften unter Schauspielern –, aber sie war sehr intensiv gewesen.
Laurel klappte das Buch zu. Sie spürte, dass ihre Wangen ge rötet waren; ein sehnsüchtiges Kribbeln im ganzen Körper machte sich bemerkbar. Hm. Wo kam das denn her? Irgendwie unangenehm, unter den gegebenen Umständen. Laurel schluckte ein leichtes Unbehagen hinunter, konzentrierte sich wieder auf das, was sie sich vorgenommen hatte. Sie schlug die Seite neunundsiebzig auf und begann, das Kapitel »Eheleben« zu lesen:
Bisher war Henry Jenkins in Liebesdingen wenig Glück beschieden. Das sollte sich im Frühjahr 1938 ändern, als ihn sein ehemaliger Schuldirektor, Mr. Jonathan Carlyon, einlud, in der Nordstrom School vor der Abschlussklasse einen Vortrag über das Leben als Schriftsteller zu halten. Dort lernte er am Abend bei einem Spaziergang über das Schulgelände die Nichte und Schutzbefohlene des
Weitere Kostenlose Bücher