Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
später durchquerte Laurel das grau-weiße Foyer der Bibliothek auf dem Weg zur Anmeldung. Die junge Frau mit dem Schriftzug »Bonny« auf dem Namensschild schien sie nicht zu erkennen, was Laurel nicht weiter verwunderte. Nachdem sie sich die halbe Nacht im Bett herumgewälzt und den Kopf darüber zerbrochen hatte, was in aller Welt ihre Mutter sich in einem Akt von ausgleichender Gerechtigkeit »genommen« haben könnte, hatte sie mal wieder verschlafen. Nach dem Aufwachen war sie sofort aus dem Bett gesprungen, und nach einer Viertelstunde saß sie im Auto. Das war wirklich Rekordzeit, aber sie sah nicht gerade aus wie das blühende Leben. Sie strich sich durchs Haar, und als Bonny fragte, »Kann ich Ihnen helfen?«, antwortete Laurel: »Das hoffe ich doch sehr.« Sie nahm den Zettel aus der Tasche, auf dem Gerry ihre Benutzernummer notiert hatte. »Ich glaube, im Lesesaal Geisteswissenschaften liegt ein Buch für mich bereit.«
»Na, sehen wir mal nach«, sagte Bonny und tippte etwas in ihre Tastatur. »Ich brauche nur noch Ihren Ausweis mit der Adresse, um die Registrierung zu vervollständigen.«
Laurel reichte ihr das Gewünschte, und Bonny lächelte. »Laurel Nicolson. Genau wie die Schauspielerin.«
»Ja«, sagte Laurel. Genau.
Bonny suchte den Leseausweis heraus und zeigte in Richtung der geschwungenen Treppe. »Im zweiten Stock. Melden Sie sich am Tresen, dort müsste das Buch für Sie bereitliegen.«
Im zweiten Stock traf sie auf einen sehr hilfsbereiten Herrn – mit einer roten Strickweste und einem langen weißen Bart –, der sie bereits erwartete. Laurel reichte ihm den Computerausdruck, den Bonny ihr mitgegeben hatte, worauf er ein dünnes, in schwarzes Leder gebundenes Bändchen aus dem Regal hinter sich nahm und ihr über den Tresen zuschob. Ein Schauder der Vorfreude überlief sie, als sie den Titel las: Henry Jenkins: Sein Leben, Lieben, Leiden .
Sie suchte sich einen Platz in der Ecke des Lesesaals, schlug den Deckel auf und atmete den verheißungsvoll staubigen Geruch des alten Papiers ein. Das kleine Buch war bei einem Verlag erschienen, dessen Namen Laurel noch nie gehört hatte, und die Machart war wenig ansprechend: der Druck war billig, Schriftgröße und Satzspiegel waren wenig lesefreundlich und die wenigen Fotos von schlechter Qualität. Laurel überflog die Inhaltsangabe. Ihr Herz begann zu klopfen, als sie die Kapitelüberschrift »Eheleben« las, die ihr Interesse geweckt hatte, als sie das Buch im Internetkatalog entdeckt hatte.
Aber sie schlug nicht gleich die Seite neunundsiebzig auf. Jedes Mal, wenn sie in letzter Zeit die Augen schloss, sah sie den Fremden mit dem schwarzen Hut vor sich, der die sonnenbeschienene Einfahrt hochkam, als wäre das Bild in ihre Netzhaut eingebrannt. Sie trommelte mit den Fingern auf die Seite mit der Inhaltsangabe. Jetzt hatte sie die Gelegenheit, mehr über ihn zu erfahren und der Silhouette, die ihr eine Gänsehaut verursachte, Farbe und Konturen zu verleihen. Vielleicht würde sie sogar den Grund für das herausfinden, was ihre Mutter an jenem Tag getan hatte. Es hatte Laurel Angst gemacht, als sie im Internet nach Henry Jenkins geforscht hatte, dieses unscheinbare Buch dagegen wirkte ganz und gar nicht bedrohlich. Die Informationen, die es enthielt, waren vor langer Zeit veröffentlicht worden (1963, wie sie feststellte, als sie die Impressumsseite aufschlug), und der ganze Fall war längst in Vergessenheit geraten. Falls Laurel in dem Buch auf etwas stoßen sollte, das ihr nicht gefiel, konnte sie es einfach wieder zuklappen und zurückgeben. Und nie wieder ein Wort darüber verlieren. Sie zögerte kurz und holte tief Luft. Dann schlug sie das Vorwort auf und begann die Geschichte von dem Fremden in der Einfahrt zu lesen.
Als Henry Ronald Jenkins sechs Jahre alt war, beobachtete er, wie mehrere Polizisten auf der Hauptstraße seines Heimatdorfs in Yorkshire einen Mann fast zu Tode prügelten. Der Mann, so ging das Gerücht in dem Dorf, stammte aus dem nahe gelegenen Denaby – von vielen als »Hölle auf Erden« und das »schlimmste Dorf Englands« bezeichnet. Es war ein Vorfall, den der junge Jenkins nie wieder vergessen sollte.
In seinem Debütroman Die Gnade der schwarzen Diamanten , der 1928 erschien, erschuf Jenkins mit Walter Harrison eine der bemerkenswertesten Figuren der britischen Literatur der Zwanzigerjahre. Im ersten Kapitel von Schwarze Diamanten wird der Übergriff mehrerer Polizisten auf den vom Unglück verfolgten
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