Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
war die Sorte Frau, um deren Zuneigung andere buhlten, der es aber nicht leichtfiel, auf andere zuzugehen oder sich gar zu öffnen. Im Rückblick betrachte ich es als einen Höhepunkt meines beruflichen Lebens, dass sie mir mit der Zeit einen tiefen Einblick in die private Welt gewährte, die sie für sich geschaffen hatte. Es war ein ›sicherer‹ Ort, an den sie sich immer dann zurückzog, wenn sie verängstigt oder einsam war, und mir wurde die Ehre zuteil, einen Blick hinter den Schleier werfen zu dürfen.«
Katy Ellis’ Beschreibung von Viviens Rückzug in eine »private Welt« stimmt mit Berichten über die erwachsene Vivien überein: »Sie war attraktiv, der Typ Mensch, den man gern betrachtet, von dem man aber nachher nicht sagen kann, ob man ihn eigentlich wirklich gekannt hat.« … »Sie gab einem das Gefühl, dass sich unter der Oberfläche weit mehr abspielte, als es den Anschein hatte.« … »In gewisser Weise wirkte ihre Selbstgenügsamkeit anziehend – sie schien andere Menschen nicht zu brauchen.« Vielleicht war es diese »merkwürdige, beinahe übersinnliche Aura«, die von Vivien ausging, die Henry Jenkins an jenem Abend auf dem Gelände der Nordstrom School gefangen nahm. Oder vielleicht war es auch die Tatsache, dass sie ebenso wie er eine von Tragik und Gewalt geprägte Kindheit erlebt hatte, um dann aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen und in eine Welt verpflanzt zu werden, die bevölkert war von Menschen, die einen völlig anderen Hintergrund hatten als sie. »Wir waren auf unsere Weise beide Außenseiter«, sagte Henry Jenkins in einem BBC -Interview. »Das war mir auf den ersten Blick klar. Als sie bei der Hochzeit im Mittelgang der Kirche auf mich zukam, so herrlich anzusehen in ihrem weißen Spitzenkleid, war dieser Moment in gewisser Weise das Ende einer Reise, die mit meiner Einschulung an der Nordstrom School begonnen hatte.«
Auf der nächsten Seite befand sich die grobkörnige Reproduktion eines Fotos von den beiden, das sie an ihrem Hochzeitstag beim Verlassen der Kirche zeigte. Vivien schaute zu Henry empor, ihr Spitzenschleier flatterte im Wind, während er sie am Arm hielt und direkt in die Kamera lächelte. Die Hochzeitsgäste, die das Paar mit Reiskörnern bewarfen, wirkten glücklich, aber Laurel machte das Foto dennoch traurig. Das ging ihr häufig so mit alten Fotos; sie war schließlich die Tochter ihrer Mutter, und die lächelnden Gesichter von Menschen, die noch nichts davon ahnten, was das Schicksal für sie bereithielt, hatten etwas schrecklich Ernüchterndes. Ganz besonders in diesem Fall, wo Laurel ganz genau wusste, welche Schrecken hinter der nächsten Ecke lauerten. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Henry Jenkins einen gewaltsamen Tod erlitt, und sie wusste ebenfalls, dass die junge Vivien Jenkins, die auf ihrem Hochzeitsfoto so hoffnungsvoll dreinblickte, bereits drei Jahre später tot sein würde.
Es steht außer Zweifel, dass Henry Jenkins seine Frau geradezu angebetet hat. Er machte kein Hehl daraus, wie viel sie ihm bedeutete, er bezeichnete sie mehrfach als seine »Erlösung« und seine »Rettung« und brachte immer wieder sein Gefühl zum Ausdruck, dass sein Leben ohne sie nicht lebenswert sei. Seine Worte erwiesen sich tragischerweise als Vorahnung, denn nach Viviens Tod bei einem Bombenangriff am 23. Mai 1941 begann Henry Jenkins’ Welt zusammenzubrechen. Obwohl er im Informationsministerium arbeitete und detaillierte Kenntnisse von den vielen zivilen Opfern hatte, die die Bombardierungen forderten, wollte Jenkins nicht akzeptieren, dass der Tod seiner Frau eine derart profane Ursache hatte. Im Nachhinein stellen sich Jenkins’ Mutmaßungen – dass es bei Viviens Tod nicht mit rech ten Dingen zugegangen sei, dass sie einer Intrige zum Opfer gefallen sei, dass sie die Gegend von London, wo sie schließlich den Tod fand, normalerweise niemals aufgesucht hätte – als erste Anzeichen von Wahnvorstellungen dar, die im Laufe der nächsten Jahre immer mehr Besitz von ihm ergriffen und ihn schließlich nur noch ein Ziel verfolgen ließen: ›die Verantwortlichen aufzuspüren und vor Gericht zu bringen‹. Nach einem Nervenzusammenbruch Mitte der Vierzigerjahre verbrachte er einige Zeit im Krankenhaus. Von seiner Manie ließ er indes bis ans Ende seines Lebens nicht ab; sie führte zum Verlust seiner gesellschaftlichen Stellung und schließlich zu seinem einsamen Tod im Jahr 1961 als mittelloser und gebrochener Mann.
Laurel schlug das
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