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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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heiß … Trotzdem würde keins seiner Kinder je die Rute zu spüren bekommen, jedenfalls nicht durch seine Hand, und schon gar nicht aus solch einem Grund (Vivien hatte sich mit einem der Jones-Sprösslinge angelegt, die allesamt ausgesprochene Rüpel waren). Also hatte er das Einzige getan, was ihm in dem Moment eingefallen war: Er hatte Vivien vor allen Leuten ausgeschimpft und ihr angekündigt, dass sie nicht am Familienausflug teilnehmen dürfe. Die Strafe war übereilt gewählt, und er würde sie später noch bereuen, vor allem, weil er damit nur wieder den Unmut seiner Frau auf sich zog, aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Zu viele Leute hatten gehört, wie er die Strafe verhängt hatte. Als die achtjährige Vivien seine Worte vernahm, hatte sie das Kinn vorgereckt, die Arme vor der Brust verschränkt, um allen zu zeigen, dass es ihr piepegal war, weil sie sowieso keine Lust hatte zu dem Ausflug.
    Und so kam es, dass sie am heißesten Tag des Sommers 1929 allein zu Hause blieb, als ihre Familie zum traditionellen Holzfäller-Picknick nach Southport aufbrach. Beim Frühstück hatte ihr Dad ihr genaue Anweisungen gegeben, was sie zu tun und was sie vor allem zu lassen hatte, ihre Mum hatte derweil, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, verzweifelt die Hände gerungen, dann wurde jedem Kind zur Vorbeugung ein Löffel Rizinusöl verabreicht – Vivien bekam zwei, weil sie es doppelt nötig hatte –, und schließlich, nachdem alle hektisch im ganzen Haus umhergeflitzt waren, weil ihnen in letzter Minute noch etwas eingefallen war, was sie mitnehmen wollten, waren sie in ihre »Tin Lizzy« gestiegen und losgefahren.
    Es war still im Haus ohne die anderen. Nichts rührte sich. Auf dem Küchentisch, an dem sie eben noch gelacht und gescherzt hatten, standen jetzt Mums Marmeladengläser zum Abkühlen aufgereiht, daneben ein Schreibblock, den Viviens Dad ihr zurechtgelegt hatte, damit sie sich bei Mr. McVeigh und Paulie Jones schriftlich entschuldigen konnte. Bisher hatte sie geschrieben »Lieber Mr. McVeigh«, hatte das »Lieber« durchgestrichen und »An« darüber geschrieben. Doch dann war ihr nichts mehr eingefallen, und sie hatte das leere Blatt Papier angestarrt und sich gefragt, wie viele Wörter wohl nötig sein würden, um es zu füllen.
    Als sie einsehen musste, dass die Briefe sich nicht von selbst schreiben würden, hatte Vivien den Stift weggelegt, die Arme über dem Kopf gestreckt, mit den nackten Füßen geschlenkert und den Blick durch das Zimmer wandern lassen: breit gerahmte Bilder an den Wänden, dunkle Mahagonimöbel, ein Rattansofa mit Häkeldecke. Das war drinnen , dachte sie angewidert, die Welt der Erwachsenen, wo Hausaufgaben gemacht und Zähne geputzt werden mussten, wo es immer hieß: »Still jetzt!«, und: »Renn nicht so!«, ein Ort der Kämme und Spitzendecken, wo ihre Mum mit ihrer Tante Ada Tee trank, wo der Pfarrer und der Arzt empfangen wurden. Ein langweiliger Ort, den sie mied, so gut sie konnte. Aber heute – Vivien kaute auf ihren Wangen – gehörte dieser Ort ihr ganz allein, zum ersten Mal in ihrem Leben.
    Zuerst las Vivien das Tagebuch ihrer Schwester, dann blätterte sie in Roberts Hobby-Zeitschriften und untersuchte Pippins Murmelsammlung; schließlich nahm sie sich den Kleider schrank ihrer Mutter vor. Sie schlüpfte in all die vielen Schuhe, die aus einer Zeit stammten, als sie noch nicht geboren war, schmiegte ihre Wange an den seidenen Stoff von Mummys bester Bluse, nahm die Halsketten aus dem Holzkästchen auf der Kommode und hängte sie sich um. Sie zog die oberste Schub lade auf und drehte die ägyptischen Münzen um, die ihr Dad aus dem Krieg mitgebracht hatte, die sorgfältig gefalteten Entlassungspapiere, einen kleinen, mit einer Schleife zusammengehaltenen Stapel Briefe und einen Bogen Papier mit der Überschrift »Heiratsurkunde«, auf dem die Namen ihrer Eltern aufgedruckt waren: Damals hatte ihre Mum noch Isabel Carlyon geheißen, geboren in »Oxford, England«. Da war sie noch keine von ihnen gewesen.
    Die Spitzengardinen blähten sich, und der herrliche Geruch von Eukalyptus und Zitronenmyrte und Mangos, die am preisgekrönten Baum im Garten ihres Vaters in der Sonne reiften, drang herein. Vivien tat alle Sachen wieder zurück in die Schublade und lief zum Fenster. Der Himmel war wolkenlos und so weit und blau wie das Meer. Feigenblätter glitzerten im Sonnenlicht, Frangipani leuchteten pink und gelb, und Vögel zwitscherten im Regenwald hinter dem Haus.

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