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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Das Wetter würde sich verschlechtern, dachte Vivien voller Genugtuung, und später würde es auch noch ein Gewitter geben. Sie mochte Gewitter: die wütenden Wolken, die ersten dicken Tropfen, der rostige Geruch der durstigen roten Erde und dann der peitschende Regen – und Daddy, wie er auf der Veranda auf und ab ging, die Pfeife im Mund und ein Funkeln in den Augen, und seine Erregung kaum verbergen konnte, während die Palmen ächzten und sich im Sturm bogen.
    Vivien drehte sich um. Sie hatte genug herumgeschnüffelt, sie würde keine weitere kostbare Minute mehr drinnen verbringen. Sie ging in die Küche, packte das Lunchpaket ein, das ihre Mutter ihr zurechtgemacht hatte, und steckte sich zusätzlich noch ein paar Kekse ein. Ameisen marschierten in einer Linie von der Spüle die Wand hoch. Auch sie wussten, dass der Regen kam. Ohne einen weiteren Gedanken an die Entschuldigungsbriefe zu verschwenden, hüpfte sie auf die Veranda hinaus.
    Es war heiß draußen; die Luft war feucht und drückend. Sie verbrannte sich fast die nackten Füße auf den Holzplanken. Ein perfekter Tag, um ans Meer zu gehen. Sie fragte sich, wo die anderen jetzt wohl sein mochten, ob sie schon in Southport angekommen waren, ob sie mit den anderen zusammen im Wasser planschten und lachten, oder ob sie vielleicht eine Fahrt auf einem der Ausflugsboote machten. Es gab einen neuen Steg, wie Robert behauptete, der Dads Kriegskameraden belauscht hatte, und Vivien hatte sich schon ausgemalt, wie sie vom Steg aus ins Wasser sprang.
    Sie könnte natürlich runter zu den Witches-Wasserfällen gehen, um zu schwimmen, überlegte Vivien, aber an einem solchen Tag war das Felsenbecken kein Ersatz für das salzige Meer; außerdem hatte sie ja eigentlich Stubenarrest, und dort würde sie garantiert auf irgendeinen Petzer treffen. Und wenn Paulie Jones da war und seinen dicken, weißen Bauch sonnte, wie ein großer Wal, würde sie sich sicher nicht beherrschen können. Wenn er Pippin noch einmal als schwachsinnig bezeichnete, würde er schon sehen, was er davon hatte.
    Sie öffnete ihre Fäuste und ließ ihren Blick zum Schuppen wandern. Der alte Mac war mit irgendwelchen Reparaturen beschäftigt, und normalerweise schaute sie gern bei ihm vorbei, aber Dad hatte ihr verboten, ihn mit ihren Fragen zu belästigen. Er hatte viel Arbeit, und Dad bezahlte ihn schließlich nicht dafür, dass er mit einem kleinen Mädchen, das seine Hausarbeiten vernachlässigte, Tee trank und Schwätzchen hielt. Der alte Mac wusste, dass sie heute zu Hause war, denn man hatte ihn gebeten, für alle Fälle Augen und Ohren offen zu halten, aber der Schuppen war für Vivien tabu – es sei denn, sie brach sich ein Bein oder geriet sonst wie in Not.
    Also blieb nur ein Ort, an den sie gehen konnte.
    Sie sprang die breiten Stufen hinunter, überquerte den Rasen, umrundete die Beete, wo Mum beharrlich versuchte, Rosen zu züchten (obwohl Dad ihr immer wieder vorsichtig begreiflich zu machen versuchte, dass sie nicht in England lebten), und lief dann, nachdem sie dreimal ein perfektes Rad geschlagen hatte, zum Bach hinunter.
    Vivien bahnte sich ihren Weg zwischen silbrigen Eukalyptusbäumen hindurch, pflückte Mimosen-und Zylinderputzerblüten, achtete darauf, nicht auf Ameisen oder Spinnen zu treten, während sie sich immer weiter von Menschen und Häusern und Lehrern und Strafarbeiten entfernte. Es war ihre Lieblingsstelle zum Spielen; sie gehörte ihr, ihr allein, und sie gehörte zu ihr.
    Heute hatte sie es noch eiliger als sonst, zum Bach zu kommen. Nachdem sie über die Felsen geklettert war, da, wo es steil wurde und die Ameisenhügel sich türmten, begann sie zu laufen. Sie genoss es zu spüren, wie ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte, wie ihre Beine sie mit beängstigender Geschwindigkeit trugen, wie sie beinahe stolperte, manchmal ausrutschte, wenn sie Zweigen ausweichen oder über Felsbrocken springen musste, wie sie durch trockenes Laub schlitterte.
    Wippflöter trällerten über ihr, Insekten summten, der Wasserfall im Dead Man’s Gully rauschte und plätscherte. Sie rannte durch ein Kaleidoskop aus Licht und Farben. Der Wald lebte: Die Bäume redeten miteinander mit heiseren, alten Stimmen, Tausende von unsichtbaren Augen blinzelten auf Ästen und umgestürzten Baumstämmen.
    Niemand außer Vivien wusste es: Der Bach besaß Zauberkraft. Es gab eine besondere Biegung, wo der Bach breiter wurde und die Ufer einen zerklüfteten Kreis bildeten; das Bachbett war vor

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