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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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übereinander.
    Die Tante fuhr fort: »Ich habe gehört, die Nonnen kümmern sich vorbildlich um die Kinder. Streng, aber gerecht, und ein bisschen Disziplin könnte ihr gewiss nicht schaden. David und Isabel sind immer viel zu nachsichtig mit ihr gewesen.«
    »Isabel«, sagte der Reverend und beugte sich vor. »Was ist mit Isabels Familie? Gibt es niemanden, zu dem man Kontakt aufnehmen könnte?«
    »Sie hat eigentlich nie viel über ihre Angehörigen gesprochen … Aber jetzt wo Sie es erwähnen. Ich glaube, es gibt einen Bruder.«
    »Einen Bruder?«
    »Ja, ein Lehrer, drüben in England. Er lebt in der Nähe von Oxford, glaube ich.«
    »Na dann!«
    »Na dann?«
    »Dann schlage ich vor, dass wir bei ihm anfangen.«
    »Sie meinen … wir sollten ihm schreiben?« Tante Ada klang erleichtert.
    »Einen Versuch ist es wert, Mrs. Frost.«
    »Soll ich …?«
    »Ich werde mich persönlich darum kümmern und ihm schreiben.«
    »Ach, Reverend …«
    »Vielleicht können wir ja an das christliche Gewissen des Mannes appellieren.«
    »Ihn dazu überreden, das Richtige zu tun.«
    »Seine familiäre Pflicht.«
    »Seine familiäre Pflicht.« Plötzlich lag fast so etwas wie Begeisterung in Tante Adas Stimme. »Und wer würde das nicht tun? Ich würde sie ja selbst großziehen, wenn ich könnte, wenn meine Mutter nicht wäre und wenn ich mehr Platz und nicht selbst sechs Kinder hätte.« Sie stand auf, und das Sofa ächzte erleichtert. »Noch ein Stück Kuchen, Reverend?«
    Es gab tatsächlich einen Bruder, und er ließ sich von Reverend Fawley dazu erweichen, das Richtige zu tun, was zur Folge hatte, dass Viviens Leben innerhalb kürzester Zeit ein zweites Mal auf den Kopf gestellt wurde. Am Ende ging alles bemerkenswert schnell. Tante Ada kannte eine Frau, die wiederum einen Mann kannte, dessen Schwester über das Meer in eine Stadt namens London reiste, um sich auf eine Stelle als Gouvernante zu bewerben, und die sich bereit erklärte, Vivien mitzunehmen. In zahlreichen Gesprächen unter Erwachsenen, von denen Vivien nicht viel begriff, wurden Entscheidungen getroffen und Einzelheiten festgelegt.
    Man besorgte ihr ein Paar fast neue Schuhe, flocht ihr das Haar zu strengen Zöpfen und steckte sie in ein frisch gestärktes Kleid mit glänzender Schärpe. Ihr Onkel brachte sie mit dem Automobil den Berg hinunter zum Bahnhof, wo der Zug nach Brisbane abfuhr. Es regnete immer noch, und es war heiß, und Vivien malte mit dem Finger Muster auf das beschla gene Fenster.
    Der Bahnhofsplatz war voll, als sie eintrafen, aber sie fanden Miss Katy Ellis an der verabredeten Stelle unter der Uhr am Fahrkartenschalter.
    Vivien hätte nie gedacht, dass es so viele Menschen auf der Welt gab. Sie waren überall, keiner wie der andere, sie liefen um her wie Riesenameisen auf einem verrottenden Baumstamm. Dazwischen schwarze Regenschirme, riesige Holzkisten und Pferde mit braunen Augen und geblähten Nüstern.
    Die Frau räusperte sich, und Vivien merkte, dass sie etwas zu ihr gesagt hatte. Sie versuchte, sich zu erinnern, was es gewesen war. Pferde und Regenschirme, Ameisen und umherwuselnde Menschen … Ihr Name. Die Frau hatte sie gefragt, ob sie Vivien heiße.
    Sie nickte.
    »Sei schön brav und folgsam«, ermahnte Tante Ada ihre Nichte, während sie ihren Kragen richtete. »So wie deine Eltern es dir beigebracht haben. Wenn Miss Ellis dich etwas fragt, sagst du: Jawohl, Miss.«
    »Es sei denn, du bist anderer Meinung, dann ist ›Nein, Miss‹ auch in Ordnung.« Die Frau lächelte sie an, zum Zeichen, dass sie scherzte. Vivien betrachtete einen Moment lang stumm die beiden Gesichter, die sie erwartungsvoll anschauten. Tante Adas Brauen zogen sich zusammen.
    »Jawohl, Miss«, sagte Vivien.
    »Wie geht es dir, Vivien? Bist du bereit für die Reise?«
    Vivien war noch nie brav und folgsam gewesen. Früher hätte sie zur Antwort gegeben, es gehe ihr überhaupt nicht gut, und sie wolle nicht fort, und das sei ungerecht, und sie wolle wieder in ihr Haus … Aber nicht jetzt. Vivien begriff, dass es viel unkomplizierter war, einfach zu sagen, was die Leute hören wollten. Es kam auf die Worte doch gar nicht an. Es gab ohnehin keine Worte, mit denen sie das tiefe schwarze Loch hätte beschreiben können, das sich in ihr aufgetan hatte, den Schmerz, der sie jedes Mal durchbohrte, wenn sie meinte, die Schritte ihres Vaters auf dem Flur zu hören oder das Eau de Cologne ihrer Mutter zu riechen, oder wenn sie etwas entdeckte, was sie unbedingt Pippin

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