Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
ihre Sachen zusammen. Es wurde bereits dunkel, Wolken verdeckten den blauen Himmel, und die Schlucht lag schon im Schatten.
Sie warf einen wehmütigen Blick zum Bach hinunter, versprach, bald wiederzukommen, und machte sich auf den Weg nach Hause.
Tante Ada saß auf der Hintertreppe, den Kopf in die Hände gestützt, als Vivien aus dem Busch auftauchte. Ein sechster Sinn musste Tante Ada gesagt haben, dass sie Gesellschaft hatte, denn sie hob den Kopf und blinzelte Vivien so verblüfft an, als wäre auf dem Rasen vor ihr ein Waldgeist erschienen.
»Komm her, Kind«, sagte sie schließlich und winkte Vivien zu sich, während sie aufstand.
Vivien ging langsam. Sie hatte ein seltsames Gefühl im Bauch, das sie sich nicht erklären konnte. Tante Adas Wangen waren gerötet. Irgendetwas schien sie aus der Fassung gebracht zu haben; sie sah aus, als würde sie gleich mit ihr schimpfen, aber das tat sie nicht, sondern sie brach in Tränen aus und sagte: »Um Himmels willen, wie siehst du nur aus. Geh rein und wasch dich! Was würde deine Mutter sagen?«
Vivien war wieder drinnen. Sie war oft drinnen, seit es passiert war. Die ganze erste, düstere Woche lang, als die hölzernen Kisten, die Särge, im Wohnzimmer aufgestellt waren, die langen Nächte, in denen die Wände ihres Zimmers sich in die Dunkelheit zurückzuziehen schienen, die zähen, schwülen Tage, an denen die Erwachsenen miteinander flüsterten und mit den Zungen schnalzten, um ihre Bestürzung darüber kundzutun, wie plötzlich das alles gekommen war, als alle in ihren Kleidern schwitzten, die schon vom Regen nass waren, der draußen in Strömen fiel.
Sie hatte sich an der Wand ein Nest gebaut, zwischen der Anrichte und der Rückenlehne von Dads Sessel, und dort war sie geblieben. Worte und Sätze summten wie Moskitos in der abgestandenen Luft über ihr – »der alte Ford« … »über die Klippe« … »ausgebrannt« … »bis zur Unkenntlichkeit« –, aber Vivien hielt sich die Ohren zu und dachte an den Tunnel im Felsenbecken und an den großen Maschinenraum in der Mitte, von dem aus die Erde gedreht wurde.
Fünf Tage lang hatte sie sich geweigert, aus ihrem Nest herauszukommen, und die Erwachsenen hatten ihr ihren Willen gelassen und ihr sogar das Essen gebracht und mitfühlend den Kopf geschüttelt. Doch von einem Tag auf den anderen war damit Schluss, und sie wurde wieder zurück in die Welt des Benimms und der Pflichten gezerrt.
Die Regenzeit hatte mit Macht eingesetzt, aber an einem Tag hatte die Sonne geschienen, und da hatte Vivien es einfach nicht mehr ausgehalten. Sie war in den Garten hinausgeschlichen und zu dem alten Mac in den Schuppen gegangen. Er hatte nichts gesagt, hatte ihr nur eine große, knorrige Hand auf die Schulter gelegt und fest zugedrückt, und dann hatte er ihr einen Hammer gegeben, damit sie ihm helfen konnte, einen Zaun zu ziehen. Im Lauf des Tages hatte sie überlegt, an den Bach zu gehen, hatte es dann aber doch nicht getan, und dann hatte der Regen wieder eingesetzt, und Tante Ada war mit Kisten gekommen, und alles im Haus war eingepackt worden. Die Lieblingsschuhe ihrer Schwester, die aus Satin, die die ganze Woche auf dem Teppich gestanden hatten, an derselben Stelle, wo sie sie abgestreift hatte, nachdem Mum erklärt hatte, sie seien zu gut für ein Picknick; sie wurden zusammen mit Dads Taschentüchern und seinem alten Gürtel in eine der Kisten geworfen. Und ehe Vivien sich versah, stand ein »Zu verkaufen«-Schild auf dem Rasen vor dem Haus, und sie schlief auf einem fremden Fußboden, während ihre Kusinen sie neugierig von ihren Betten aus beäugten.
Bei Tante Ada im Haus war alles ganz anders, als Vivien es gewohnt war. Die Farbe blätterte nicht von den Wänden, es gab keine Ameisen, die über die Banklehne krabbelten, und keine Vasen mit dicken Blumensträußen aus dem Garten. In diesem Haus wurde es auch nicht geduldet, dass man Milch verschüttete. Alles stand stets an seinem Platz, wie Tante Ada gern betonte, mit einer Stimme, so schrill wie eine zu stramm gespannte Geigensaite.
Während es draußen ohne Unterlass regnete, lag Vivien im guten Zimmer unter dem Sofa, dicht an die Wand gedrückt. Ein Stück des Unterbezugs aus Jute hing herunter, was von vorne nicht zu sehen war, und wenn sie dahinter kroch, war sie unsichtbar. Das zerrissene Stück Jute hatte etwas Tröstliches, es erinnerte sie an das vertraute, lustige Durcheinander bei ihr zu Hause. Beinahe hätte es sie zum Weinen gebracht. Aber die
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