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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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zwischen den Trümmern und ordnete ihre Frisur. Die mit einem kleinen Rubin besetzte Haarnadel, die Henry ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, war wunderschön, aber sie hielt leider nicht so gut wie eine Spange. »Ich muss jetzt los«, sagte sie knapp, dann drehte sie sich um und ging, so schnell sie konnte, zurück auf die Straße.
    Natürlich hatte sie ihn sofort erkannt. Nachdem sie mit ihm zusammengestoßen war und einen Schritt zurück gemacht und sein Gesicht gesehen hatte, war sie wie elektrisiert gewesen. Sie hatte von ihm geträumt, nachdem sie sich an dem Abend in der Kantine unterhalten hatten, etwas, das sie sich immer noch nicht erklären konnte. Gott, ihr war regelrecht die Luft weggeblieben, als sie sich am nächsten Morgen daran erinnert hatte. Es war nicht mal ein sexueller Traum gewesen, sondern viel berauschender und daher umso gefährlicher. Der Traum hatte sie mit einer unerklärlichen, tiefen Sehnsucht nach einem weit entfernten Ort und einer längst vergangenen Zeit erfüllt, einer Sehnsucht, von der sie geglaubt hatte, sie hätte sie längst überwunden. Und als ihr am nächsten Morgen bewusst wurde, dass sie diese Sehnsucht nie würde stillen können, hatte sich das angefühlt, als wäre ein geliebter Mensch gestorben. Sie hatte alles versucht, den Traum aus dem Kopf zu bekommen, seine hungrigen Schatten – aber vergeblich. Beim Frühstück war sie Henrys Blicken ausgewichen, aus Angst, er könnte entdecken, was in ihrem Innern vor sich ging – und das, wo sie so gut darin geworden war, ihre Gedanken und Gefühle vor ihm zu verbergen.
    »Warten Sie!«
    O Gott, er folgte ihr. Vivien ging weiter, jetzt noch schneller, das Kinn ein bisschen höher gereckt. Sie wollte nicht, dass er sie einholte; es war für alle Beteiligten besser so. Und dennoch. Ein Teil von ihr – der unvorsichtige, neugierige Teil, der sie als Kind immer wieder in Schwierigkeiten gebracht hatte, der Teil, an dem Tante Ada verzweifelt war und den ihr Vater an ihr geliebt hatte, der kleine, verborgene Teil, der nie aufzugeben schien, egal wie sehr er geschunden und gequält wurde –, dieser Teil wollte wissen, was der Mann aus ihrem Traum als Nächstes sagen würde.
    Vivien verfluchte diesen Teil von sich. Sie überquerte die Straße und eilte über das Kopfsteinpflaster, auf dem ihre Absätze laut klapperten. Sie war eine Närrin. Der Mann war nur deshalb in ihrem Traum aufgetaucht, weil ihr Gehirn sein Bild aus unerfindlichen Gründen in das chaotische Unbewusste hineinprojiziert hatte, aus dem sich Träume speisten.
    »Warten Sie!«, rief er, jetzt dicht hinter ihr. »Gott, das war offenbar kein Scherz, dass Sie immer zu schnell gehen. Sie sollten sich überlegen, an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Eine Sportlerin wie Sie würde die Moral des Landes gehörig stärken …«
    Sie spürte, wie sie ihre Schritte ein wenig verlangsamte, als er sie einholte, aber sie schaute ihn nicht an, sondern hörte ihm nur zu. »Tut mir leid. Ich habe Sie wohl auf dem falschen Fuß erwischt«, sagte er und lief neben ihr. »Ich wollte Sie nicht verärgern. Ich hatte mich nur so gefreut, Sie wiederzusehen.«
    Sie sah ihn von der Seite an. »Ach ja? Und warum?«
    Er blieb stehen, und etwas an seinem ernsten Gesichtsausdruck ließ sie ebenfalls stehen bleiben. Sie blickte die Straße auf und ab, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand gefolgt war. »Kein Grund zur Sorge, es ist nur … seit unserem Gespräch habe ich viel über das Krankenhaus nachgedacht, über Nella, dieses kleine Mädchen auf dem Foto.«
    »Ich weiß, wer Nella ist«, fauchte Vivien. »Ich habe sie diese Woche noch gesehen.«
    »Sie ist also immer noch in dem Krankenhaus?«
    »Ja.«
    Ihr forscher Ton ließ ihn zusammenzucken, was ihr nur recht war, doch dann lächelte er, wahrscheinlich um sie zu besänftigen. »Hören Sie, ich würde die Kleine gern einmal besuchen, weiter nichts. Ich möchte Ihnen nicht lästig fallen, und ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen keine Umstände machen werde. Wenn Sie mich irgendwann mal in dieses Krankenhaus mitnehmen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
    Vivien wusste, sie sollte ablehnen. Einen Mann wie ihn im Schlepptau zu haben, wenn sie zu Dr. Tomalin ging, war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Die Sache war auch so schon gefährlich genug; Henry wurde allmählich misstrauisch. Aber der Mann schaute sie so voller Eifer an, und – verdammt – sein Gesicht war so arglos und hoffnungsvoll … Und plötzlich war dieses

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