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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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meiste Zeit konzentrierte sie sich auf das Atmen, holte so wenig Luft wie möglich und atmete so langsam aus, dass ihre Brust sich kaum bewegte. So konnte sie es Stunden – ganze Tage lang – aushalten, während das Regenwasser draußen in den Abflussrohren gurgelte. Viviens Augen blieben geschlossen, ihr Brustkorb blieb ruhig. Manchmal glaubte sie fast, sie könnte die Zeit anhalten.
    Das Beste am guten Zimmer war, dass keiner es betreten durfte. Die Regel war Vivien gleich am ersten Abend erklärt worden – das gute Zimmer wurde nur benutzt, wenn Besuch kam, und zwar ausschließlich von ihrer Tante, und auch nur dann, wenn es ein vornehmer Gast war. Vivien hatte feierlich genickt, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Und das hatte sie. Niemand benutzte das Zimmer, was bedeutete, dass sie sich, sobald das tägliche Staubwischen erledigt war, darauf verlassen konnte, das ganze Reich für sich allein zu haben.
    So war es geblieben. Bis heute.
    Seit einer Viertelstunde saß Reverend Fawley im Sessel vor dem Fenster, während Tante Ada umständlich Tee einschenkte und Gebäck reichte. Vivien steckte derweil unter dem Sofa – genauer gesagt eingeklemmt hinter der Delle, die Tante Adas Gesäß bildete.
    »Mrs. Frost«, sagte der Reverend in dem süßlichen Ton, den er sich normalerweise für den Weihnachtsgottesdienst aufhob, »ich muss Sie nicht an die Worte des Herrn erinnern: ›Vergesst nicht, Gastfreundschaft zu üben, denn dadurch haben manche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.‹«
    »Wenn das Mädchen ein Engel ist, bin ich die Königin von England.«
    »Nun.« Ein Löffel klimperte zart an Porzellan. »Das Kind hat einen schrecklichen Verlust erlitten.«
    »Zucker, Reverend?«
    »Nein, danke, Mrs. Frost.«
    Die Delle im Sofa wurde größer, als Tanta Ada seufzte. »Wir haben alle einen schrecklichen Verlust zu beklagen, Reverend. Wenn ich daran denke, dass mein lieber Bruder auf diese Weise ums Leben gekommen ist … in die Tiefe gestürzt, die ganze Familie … Harvey Watkins, der sie gefunden hat, sagt, alles war so verkohlt, dass er erst gar nicht wusste, was er da vor sich hatte. Eine Tragödie …«
    »Eine furchtbare Tragödie.«
    »Trotzdem.« Tanta Adas Füße scheuerten nervös auf dem Teppich. »Ich kann sie nicht hierbehalten. Ich habe selber sechs Kinder, und jetzt zieht auch noch meine Mutter zu uns. Sie wissen ja, in welchem Zustand sie ist, seit man ihr das Bein amputieren musste. Ich bin eine gute Christin, Reverend, ich gehe jeden Sonntag zur Kirche, ich gebe meinen Teil für die Weihnachts-und die Osterfeier, aber das ist einfach zu viel.«
    »Verstehe.«
    »Sie wissen ja selbst, wie schwierig das Mädchen ist.«
    Eine Weile lang waren nur das Klappern von Tassen und das leise Schlürfen von Tee zu hören, während die beiden darüber nachdachten, wie schwierig Vivien war.
    »Wenn es um eins ihrer Geschwister ginge«, Tante Ada stellte ihre Tasse ab, »selbst wenn es der arme, kleine Pippin wäre … aber mit diesem Kind komme ich einfach nicht zurecht. Verzeihen Sie mir, Reverend, ich weiß, es ist eine Sünde, so etwas zu sagen, aber jedes Mal, wenn ich das Mädchen ansehe, gebe ich ihr die Schuld an allem, was passiert ist. Sie hätte mit den anderen fahren sollen. Wenn sie nicht wieder so aufsässig gewesen wäre, dass man sie bestrafen musste … Sie haben sich früher auf den Heimweg gemacht, wissen Sie, weil mein Bruder nicht wollte, dass sie so lange allein ist. Er war einfach zu gut für diese Welt …« Sie brach ab und stieß einen unterdrückten Klagelaut aus, und Vivien dachte, wie hässlich Erwachsene sein konnten, wie schwach. Sie waren es so sehr gewohnt, zu bekommen, was sie wollten, dass sie keine Ahnung hatten, was es bedeutete, tapfer zu sein.
    »Beruhigen Sie sich, Mrs. Frost. Es wird alles gut.«
    Das Schluchzen klang übertrieben und gezwungen, wie bei Pippin, wenn er Mums Aufmerksamkeit wollte. Der Sessel des Reverend ächzte, dann kamen seine Füße näher. Er gab Tante Ada etwas, das vermutete Vivien jedenfalls, denn die Tante sagte mit tränenerstickter Stimme: »Danke, Reverend.« Dann schnäuzte sie sich geräuschvoll.
    »Nein, behalten Sie es«, sagte der Reverend, ging wieder zu seinem Sessel und nahm seufzend Platz. »Aber man fragt sich doch, was aus dem Kind werden soll.«
    Tante Ada schniefte ein paarmal, dann sagte sie: »Ich hatte gedacht, vielleicht könnte das kirchliche Internat in Too woomba sie aufnehmen?«
    Der Reverend schlug die Beine

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