Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
tief vorbeugen und die Augen zusammenkneifen, aber dann … Da waren sie!
Sie lächelte und wäre beinahe ausgerutscht. Über ihr stimmten zwei Kookaburras ihr lautes Gelächter an. Vivien watete so schnell zurück zum Ufer, dass sie vor Hast mehrmals ausrutschte. Sie lief über die Felsplatte und kramte die Wäscheklammer aus ihrem Beutel. In diesem Moment zwickte sie etwas am Fuß. Ein Blutegel – ein Riesenvieh! Vivien bückte sich, packte ihn mit Daumen und Zeigefinger und zog. Aber das schleimige Biest wollte einfach nicht loslassen.
Sie hockte sich hin und versuchte es noch einmal, aber wie sehr sie sich auch abmühte, der Egel löste sich nicht. Er fühlte sich weich und eklig an. Sie holte tief Luft und machte einen letzten Versuch. Diesmal klappte es. Das Biest ließ locker, aber ihr Fuß blutete heftig.
Ihr wurde ein bisschen schwindlig, und sie war froh, dass sie saß. Eigentlich hatte sie keine Angst vor Blut. Sie konnte zusehen, wie der alte Mac den Hühnern den Kopf abschlug; sie hatte sogar die Fingerspitze ihres Bruders Pippin bis zu Doc Farrells Praxis getragen, als er sie sich aus Versehen mit der Axt abgehackt hatte; sie konnte einen Fisch schneller und gründlicher ausnehmen als Robert, wenn sie am Nerang River zelteten. Aber wenn sie ihr eigenes Blut sah, wurde ihr komisch zumute.
Sie humpelte zum Ufer, hielt ihren Fuß ins Wasser und bewegte ihn im Bach hin und her. Aber jedes Mal, wenn sie den Fuß aus dem Wasser nahm, blutete er immer noch. Ihr blieb nichts anderes übrig als zu warten.
Sie hockte sich auf den Felsen und packte ihren Proviant aus. Eine dicke Bratenscheibe vom Vorabend, mit kalter Soße, die in der Sonne glänzte; weiche Kartoffel-und Yamwurzelstücke, die sie sich mit den Fingern in den Mund stopfte; ein Stück vom Brotauflauf mit etwas von Mums frisch gemachter Marmelade obendrauf; drei Kekse und eine Blutorange, frisch vom Baum.
Ein paar Krähen ließen sich im Schatten der Bäume nieder, während sie aß, und starrten sie mit ihren kalten Augen an. Als sie fertig war und die letzten Reste ins Gebüsch warf, flogen die Krähen mit schweren Flügelschlägen hinterher. Vivien klopfte sich die Krümel vom Kleid und gähnte.
Endlich hatte ihr Fuß aufgehört zu bluten. Eigentlich wollte sie das Loch am Grund des Felsenbeckens untersuchen, aber plötzlich war sie hundemüde; so müde wie das Mädchen in den Geschichten, die Mum ihnen manchmal vorlas, mit einer sehnsüchtigen Stimme, die sich immer weniger wie die ihrer Mutter anhörte. Diese Stimme gab Vivien immer ein seltsames Gefühl; sie klang so vornehm, und obwohl Vivien ihre Mum dafür bewunderte, war sie auch eifersüchtig auf diese Seite ihrer Mutter, die nicht ihnen gehörte.
Vivien gähnte noch einmal, so heftig, dass ihr die Augen tränten.
Vielleicht sollte sie sich ein bisschen ausruhen, nur ein ganz kleines bisschen.
Auf allen vieren kroch sie zum Rand des Felsens und unter die Farnwedel, so tief, dass sie den Himmel nicht mehr sehen konnte, als sie sich auf den Rücken rollte. Das Laub auf dem Boden fühlte sich weich und kühl an, Grillen zirpten im Unterholz, und irgendwo quakte ein Frosch.
Es war warm, und sie war ein Kind, und es war kein Wunder, dass sie einschlief. Vivien träumte von den Lichtern im Bach, und davon, wie lange es dauerte, um bis nach China zu schwimmen, und von einem langen Steg mit hölzernen Planken, von dem ihre Geschwister ins Wasser sprangen. Sie träumte von dem aufkommenden Gewitter und von Dad auf der Veranda, von Mums heller Haut, die nach einem Tag am Meer immer von Sommersprossen übersät war, und davon, wie sie am Abend alle um den Abendbrottisch saßen.
Die Sonne brannte vom Himmel herab, Licht sickerte durch das Laub, die Feuchtigkeit brachte die Luft zum Stehen, und kleine Schweißperlen bildeten sich auf Viviens Stirn. Insekten zirpten und schwirrten, das schlafende Kind zuckte, als ein Farnwedel seine Wange berührte, und da …
»Vivien!« – ertönte plötzlich ihr Name.
Sie fuhr aus dem Schlaf.
»Vivien!«
Das war Tante Ada, Daddys ältere Schwester.
Vivien setzte sich auf und schob sich mit dem Handrücken das feuchte Haar aus dem Gesicht. Bienen summten in der Nähe. Sie gähnte.
»Vivien! Bitte, spiel kein Verstecken, Kind! Sag was, um Gottes willen!«
Vivien gehorchte nie aufs Wort, aber die Stimme ihrer Tante klang fast, als hätte sie Angst, sodass die Neugier diesmal größer war als der Trotz. Sie kroch unter den Farnwedeln hervor und packte
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