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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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zeigen wollte …
    »Jawohl, Miss«, sagte sie zu der lebhaften Frau mit dem roten Haar und dem langen, hübschen Rock.
    Tante Ada übergab Viviens Koffer einem Träger, tätschelte ihrer Nichte den Kopf und ermahnte sie, immer schön brav zu sein. Miss Katy Ellis überprüfte noch ein letztes Mal die Fahrkarten, während sie sich fragte, ob das Kleid, das sie für das Vorstellungsgespräch in London eingepackt hatte, dem Anlass angemessen sein würde. Als das Signal ertönte, dass der Zug abfahrbereit war, stieg ein kleines Mädchen mit Zöpfen und Schuhen, die jemand anderem gehörten, die eisernen Stufen hoch. Die Lokomotive stieß riesige Dampfwolken aus, Leute winkten und riefen durcheinander, ein Hund rannte bellend durch die Menge. Niemand sah, wie das kleine Mädchen durch die im Schatten liegende Tür in den Zug stieg, nicht einmal Tante Ada, von der man hätte erwarten können, dass sie ihre verwaiste Nichte fürsorglich auf ihrer Reise in eine ungewisse Zukunft bis zur Waggontür begleitet hätte. Und als das Wesen aus Licht und Leben, das einmal Vivien Longmeyer gewesen war, sich so klein machte wie möglich, um sich in sich selbst zurückzuziehen, wo es sich in Sicherheit wähnte, drehte die Welt sich weiter, ohne dass irgendjemand davon Kenntnis nahm.

23
    London, März 1941
    V ivien rempelte den Mann an, weil sie nicht aufgepasst hatte, wohin sie ging. Außerdem ging sie sehr schnell – zu schnell, wie immer. Und so stießen sie an einem kalten grauen Tag im März an der Ecke Fulham Road und Sydney Street zusammen. »Oh, Verzeihung«, sagte sie erschrocken. »Ich habe Sie nicht gesehen.« Der Mann wirkte leicht benommen, und sie fürchtete schon, sie hätte ihm womöglich wehgetan. »Ich gehe einfach immer zu schnell«, beeilte sie sich ihm zu erklären. Meine kleine Rennmaus hatte ihr Vater sie liebevoll genannt, wenn sie als Kind durch den Busch geflitzt war. Vivien schüttelte die Erinnerung ab.
    »Meine Schuld«, entgegnete der Mann mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich bin leicht zu übersehen – manchmal scheine ich direkt unsichtbar zu sein. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lästig das ist.«
    Vivien musste über seine Bemerkung lächeln. Das erwies sich als Fehler, denn er legte den Kopf schief und beäugte sie mit schmalen Augen. »Wir sind uns doch schon einmal begegnet«, sagte er.
    »Nein.« Sie setzte ein ernstes Gesicht auf. »Das glaube ich nicht.«
    »Doch. Ich bin mir ganz sicher.«
    »Sie müssen sich irren.« Sie nickte, um zu signalisieren, dass das Thema damit für sie erledigt war, dann sagte sie: »Auf Wiedersehen«, und setzte ihren Weg fort.
    Einige Momente verstrichen. Sie hatte fast die Cale Street erreicht, als er hinter ihr herrief: »In der Kantine in Kensington! Sie haben sich meine Fotografien angesehen und mir von dem Kinderkrankenhaus Ihres Bekannten erzählt.«
    Sie blieb stehen.
    »Das Krankenhaus für Waisenkinder …«
    Vivien lief hochrot an, drehte sich um und ging zu dem Mann zurück. »Halten Sie den Mund«, zischte sie und legte sich einen Finger an die Lippen. »Halten Sie sofort den Mund.«
    Er legte die Stirn in Falten, offensichtlich verwirrt, während sie sich nach allen Seiten umsah. Dann zog sie ihn hinter eine von einem Bombeneinschlag beschädigte Ladenfassade, weg von neugierigen Blicken. »Ich bin mir sicher, dass ich Sie klar und deutlich darum gebeten habe, mit niemandem über …«
    »Sie erinnern sich also doch?«
    »Natürlich erinnere ich mich. Sehe ich aus, als wäre ich beschränkt?« Sie schaute in Richtung Straße und wartete, bis eine Frau mit einem Einkaufskorb vorbeigegangen war. Dann flüsterte sie: »Ich habe Sie gebeten, das Krankenhaus niemandem gegenüber zu erwähnen.«
    »Ich wusste nicht, dass Sie damit auch sich selbst gemeint haben«, flüsterte er zurück.
    Vivien machte den Mund auf und wieder zu. Er verzog keine Miene, sein Ton sagte ihr jedoch, dass er scherzte. Aber sie tat so, als wäre es ihr entgangen; es würde ihn nur ermutigen, und das war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. »Habe ich aber«, sagte sie.
    »Verstehe. Nun, dann weiß ich ja jetzt Bescheid. Danke, dass Sie es mir erklärt haben.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er fortfuhr: »Ich hoffe, ich habe nicht alles ruiniert, indem ich Ihr Geheimnis ausgeplaudert habe.«
    Plötzlich wurde Vivien gewahr, dass sie ihn am Handgelenk gefasst hielt, und sie ließ ihn los, als hätte sie sich verbrannt. Sie machte einen Schritt rückwärts

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