Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Fotokopie zeigte, zog er die Nase kraus und stimmte ihr zu, dass das merkwürdig war. Dann hellte sich seine Miene auf. »Vielleicht hat sie die Briefe vor ihrem Tod vernichtet?« Er konnte nicht ahnen, dass er damit Laurels Hoffnungen zunichtemachte. »Das kommt vor«, fuhr er fort, »vor allem bei Leuten, die vorhaben, ihre Korrespondenz einer Bibliothek zu schenken. Die entfernen vorher alles, was nicht für die Augen von Fremden bestimmt ist. Wissen Sie, ob sie einen Grund gehabt haben könnte, gerade diese Briefe zu vernichten?«
Laurel überlegte. Es war durchaus möglich, dachte sie. Viviens Briefe könnten etwas enthalten haben, was Katy Ellis als peinlich oder belastend empfunden hatte. Gott, letztlich war alles möglich. Laurel schwirrte der Kopf. »Könnte es sein, dass sie an einem anderen Ort aufbewahrt werden?«, fragte sie.
Ben schüttelte den Kopf. »Die New College Library war die einzige begünstigte Institution. Alles, was Katy Ellis hinterlassen hat, befindet sich hier bei uns.«
Laurel hätte die säuberlich gestapelten Kartons am liebsten vom Tisch gestoßen. So kurz vor dem Ziel eine derart herbe Enttäuschung zu erleben – das war wirklich demoralisierend. Ben lächelte mitfühlend, und Laurel wollte sich gerade auf ihren Stuhl fallen lassen, als ihr etwas einfiel: »Die Tagebücher!«
»Wie bitte?«
»Katy Ellis hat Tagebuch geführt – sie erwähnt es in ihren Memoiren, ich bin mir ganz sicher. Wissen Sie, ob ihre Tagebücher zur Sammlung gehören?«
»Ja, natürlich«, sagte Ben. »Ich habe sie ebenfalls geholt.«
Er zeigte auf einen Stapel Bücher auf dem Boden neben dem Tisch. Laurel hätte ihm um den Hals fallen können. Mit neuem Mut setzte sie sich an ihren Tisch und nahm sich das erste in Leder gebundene Buch vor. Es war auf 1929 datiert, das Jahr, so erinnerte sich Laurel, in dem Katy Ellis Vivien Longmeyer auf der langen Reise von Australien nach England begleitet hatte. Auf der ersten Seite befand sich ein Schwarz-Weiß-Foto, säuberlich mit goldenen Fotoecken eingeklebt. Es zeigte eine junge Frau in langem Rock und hochgeschlossener Bluse, das Haar seitlich gescheitelt und in Löckchen gelegt. Ihre ganze Erscheinung war bescheiden und sittsam, aber ihre Augen strahlten Entschlusskraft aus. Sie blickte mit erhobenem Kinn in die Kamera – sie lächelte zwar nicht, schien sich jedoch ausgesprochen wohl in ihrer Haut zu fühlen. Miss Katy Ellis war ihr sympathisch, dachte Laurel, erst recht, nachdem sie die kurze Notiz unter dem Foto gelesen hatte: Auf die Gefahr hin, keck und eitel zu erscheinen, fügt die Autorin dieses Foto hier ein, das im Studio Hunter & Gould in Brisbane aufgenommen wurde, als Erinnerung an eine junge Frau auf dem Sprung zu ihrem großen Abenteuer im Jahr des Herrn neunzehnhundertneunundzwanzig .
Laurel schlug die erste mit sauberer Handschrift beschriebene Seite auf. Sie trug das Datum des 18. Mai 1929 und die Überschrift: »Erste Woche – Ein Neuanfang.« Sie lächelte über Katy Ellis’ leicht pathetische Ausdrucksweise, dann atmete sie scharf ein, als ihr der Name »Vivien« ins Auge sprang. Nach einer ausführlichen Beschreibung des Schiffs, der Kabinen, der Mit reisenden und (sehr detailliert) der Mahlzeiten an Bord, las Laurel Folgendes:
Meine Reisebegleiterin ist ein kleines, achtjähriges Mädchen namens Vivien Longmeyer. Es ist ein äußerst ungewöhnliches Kind, sehr verblüffend. Recht hübsch – dunkles, in der Mitte gescheiteltes, (von mir) zu langen Zöpfen geflochtenes Haar, sehr große braune Augen, und volle, kirschrote Lippen, die es mit einer Beharrlichkeit geschlossen hält, die entweder auf Verstocktheit oder auf Willensstärke schließen lässt – das muss ich noch herausfinden. Die Kleine hat ein stolzes, eigensinniges Wesen, das erkenne ich daran, wie durchdringend sie mich mit ihren braunen Augen anschaut. Die Tante hat mir anschaulich berichtet, wie scharfzüngig das Mädchen ist und wie bereitwillig es mit Fäusten auf andere losgeht. Bisher allerdings konnte ich noch kein Anzeichen für die angeblichen körperlichen Exzesse der Kleinen entdecken, noch habe ich bis heute mehr als fünf Worte, scharfzüngig oder nicht, aus ihrem Mund gehört. Ungehorsam ist sie auf jeden Fall; schlecht erzogen zweifellos; und doch ist Vivien, so uner klärlich es scheinen mag, überaus liebenswert. Sie fasziniert mich, selbst wenn sie einfach nur an Deck sitzt und das Meer betrachtet; und das liegt nicht nur an ihrem ansprechenden
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