Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
gesagt, Ma?«
»Ich habe versucht, mich zu verstecken, aber er hat mich doch gefunden.«
Sie konnte nur Henry Jenkins meinen. Sie kamen dem, was sich an jenem Tag im Jahr 1961 ereignet hatte, immer näher. »Er ist fort, Ma. Er wird nicht wieder zurückkommen.«
»Ich hab ihn umgebracht, Laurel«, flüsterte ihre Mutter kaum hörbar.
Laurel hielt den Atem an. »Das weiß ich«, flüsterte sie.
»Kannst du mir verzeihen, Laurel?«
Die Frage hatte Laurel sich selbst so noch nicht gestellt. Als sie jetzt in der dunklen Stille damit konfrontiert wurde, konnte sie nur sagen: »Ganz ruhig. Es wird alles gut, Ma. Ich liebe dich.«
Einige Stunden später, als die Sonne gerade über den Hügeln aufging, hatte Laurel an Rose übergeben und war auf dem Weg zu ihrem grünen Mini.
»Wieder nach London?«, fragte Rose, die neben ihr herging.
»Nein, heute fahre ich nach Oxford.«
»Ach, Oxford.« Rose fummelte an ihren Perlen. »Wegen deiner Recherchen?«
»Ja.«
»Kommst du voran?«
»Ich glaube ja«, sagte Laurel und stieg in den Wagen. Sie schlug die Tür zu, hob lächelnd die Hand zum Abschied und legte den Rückwärtsgang ein, froh zu entkommen, ehe Rose noch mehr Fragen stellte.
Der Mann im Lesesaal der British Library war ganz begeistert gewesen, als sie am Freitag mit dem Ansinnen gekommen war, die Memoiren »einer gewissen Katy Ellis« für sie herauszusuchen, und noch mehr, als sie ihn gefragt hatte, wie man herausfinden könnte, was nach dem Tod von Katy Ellis aus deren Korrespondenz geworden war. Er hatte sich mit wichtiger Miene an seinen Computer gesetzt, seine Arbeit hin und wieder unterbrochen, um etwas auf einem Notizblock zu notieren, und Laurel hatte ihm gespannt zugesehen, bis ihm das offenbar lästig geworden war und er ihr erklärt hatte, es könne noch eine Weile dauern. Laurel hatte den Wink verstanden und war nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen (na gut, drei) und ein bisschen auf und ab zu gehen, bis sie es nicht mehr ausgehalten hatte und in den Lesesaal zurückgeeilt war, um zu sehen, wie weit die Bemühungen des Bibliothekars gediehen waren.
Der Mann hatte ihr einen Notizzettel über den Tresen gereicht und mit dem erschöpften, aber zufriedenen Lächeln eines erfolgreichen Marathonläufers erklärt: »Gefunden!« Demnach befand sich Katy Ellis’ handschriftlicher Nachlass in der New College Library in Oxford. Ellis hatte dort promoviert, und nach ihrem Tod im September 1983 waren ihre Briefe und Tagebücher der Universität gestiftet worden. Es gab dort auch ein Exemplar ihrer Memoiren, aber Laurel vermutete, dass sie das, wonach sie suchte, eher in den privaten Unterlagen finden würde.
Laurel stellte ihren grünen Mini auf dem Park-and-Ride-Parkplatz in Thornhill ab und fuhr mit dem Bus nach Oxford. Auf Anraten des Busfahrers hin stieg sie in der High Street aus, gleich gegenüber dem Queen’s College. Sie ging an der Bodleian Library vorbei, die Holywell Street hinunter zum Haupteingang des New College. Sie war immer wieder von Neuem beeindruckt von der Schönheit der Universitätsgebäude – jeder Stein, jede in den Himmel ragende Turmspitze ächzte unter dem Gewicht der Vergangenheit –, aber heute hatte Laurel keine Zeit für die Sehenswürdigkeiten. Sie schob die Hände in die Hosentaschen, zog den Kopf ein gegen die Kälte und eilte über den Rasen des Innenhofs zur Bibliothek.
Am Empfang wurde sie von einem jungen Mann mit tief schwarzem Haar und Strubbelfrisur begrüßt. Laurel nannte ihren Namen, erklärte ihr Anliegen und dass der Bibliothekar der British Library sie am Freitag telefonisch angekündigt habe.
»Ja, ja«, sagte der junge Mann (Ben war sein Name – er half in der Bibliothek offensichtlich nur aus, aber dies tat er mit Begeisterung), »ich habe selbst mit ihm gesprochen. Es geht um eine Alumni-Stiftung, richtig?«
»Es geht um den Nachlass von Katy Ellis.«
»Genau. Ich habe das Material für Sie aus dem Dokumententurm geholt.«
»Super. Vielen Dank.«
»Keine Ursache. Mir ist jeder Vorwand recht, um in den Turm zu steigen.« Er lächelte und beugte sich mit verschwörerischer Miene vor. »Man muss eine Wendeltreppe hoch, wissen Sie, zu der man durch eine in den Wandpaneelen der Eingangshalle versteckte Tür gelangt. Wie in Hogwarts.«
Natürlich hatte Laurel Harry Potter gelesen und war ebenso empfänglich für den Charme alter Gebäude wie jedermann, aber die Öffnungszeit der Bibliothek war begrenzt, Katy Ellis’ Briefe waren in
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