Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
aufgeregt: »Ich kann es nicht hören.«
»Was kannst du nicht hören?«
»Das Geräusch der Räder.«
Dann fiel mir ein, was sie mir von dem großen Maschinenraum im Innern der Erde erzählt hatte, und von dem Tunnel, der sie wieder nach Hause würde führen können.
»Ich kann sie nicht mehr hören.«
Natürlich wurde ihr allmählich das Endgültige ihrer Situation bewusst, denn (ebenso wie ich) wird sie ihr Heimatland viele Jahre lang nicht wiedersehen – wenn überhaupt –, und erst recht nicht die Art von Heimat, nach der sie sich zurücksehnt. Auch wenn es mir das Herz brach, den kleinen Trotzkopf so zu erleben, so hatte ich doch keine Worte des Trostes für sie, denn es ist sicherlich das Beste, wenn sie sich so bald als möglich selbst aus dem Griff ihrer Phantasmen befreit. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie an die Hand zu nehmen und sie sicher zu dem Treffpunkt zu geleiten, den ihre Tante mit dem englischen Onkel verabredet hatte. Aber was Vivien gesagt hatte, machte mir Sorgen, wusste ich doch um ihre inneren Qualen, und nicht nur das, ich wusste auch, dass der Augenblick nahte, an dem ich mich von ihr würde verabschieden müssen.
Vielleicht wäre ich heute weniger beunruhigt, wenn ich bei dem Onkel ein wenig mehr Herzenswärme gespürt hätte. Leider war das nicht der Fall. Ihr neuer Vormund ist der Direktor der Nordstrom School in Oxfordshire, und vielleicht war es ja sein professioneller (männlicher?) Stolz, der eine Barriere zwischen uns errichtete, denn er würdigte mich keines Blickes, sondern blieb nur lange genug stehen, um das Mädchen zu inspizieren und es dann zur Eile anzutreiben, sie hätten keine Minute Zeit zu verlieren.
Nein, er kam mir nicht vor wie ein Mann, der einem kleinen, empfindsamen Mädchen sein Heim öffnet und ihm die Wärme und das Verständnis entgegenbringt, das es nach all den Schrecken und Fährnissen der letzten Zeit dringend braucht.
Ich habe der australischen Tante geschrieben und ihr von meinen bösen Vorahnungen berichtet, wage jedoch kaum zu hoffen, dass sie sich für ihre Nichte starkmachen und ihre sofortige Rückkehr verlangen wird. Aber ich habe Vivien versprochen, ihr regelmäßig nach Oxfordshire zu schreiben, und daran werde ich mich halten. Ich wünschte, meine neue Arbeitsstelle hätte mich nicht ans andere Ende des Landes verschlagen – ich würde Vivien gern unter meine Fittiche nehmen und beschützen, denn ich habe Vivien sehr ins Herz geschlossen. Ich hoffe inständig, dass die Zeit und die Umstände dazu beitragen, dass die tiefe Verletzung, die das Kind erlitten hat, eines Tages heilt. Vielleicht verleiten meine starken Gefühle mich dazu, die Zukunft allzu schwarz zu sehen, vielleicht machen sie mich zum Opfer meiner eigenen Fantasie, aber ich bin skeptisch. Vivien läuft Gefahr, sich in die Traumwelt, die sie für sich erschaffen hat, zurückzuziehen, eine Fremde in der realen Welt realer Menschen zu bleiben und so als Heranwachsende zur leichten Beute derer zu werden, die sie ausnutzen wollen. Man fragt sich, welchen Grund der Onkel gehabt haben mag, das Kind bei sich aufzunehmen. Pflichtgefühl? Möglich. Kinderliebe? Sicherlich nicht. So reich, wie sie einmal sein wird (denn ich habe erfahren, dass sie einmal ein Vermögen erben wird), fürchte ich, dass sie viel besitzen wird, was andere ihr werden nehmen wollen.
Laurel lehnte sich zurück und starrte mit leerem Blick auf die efeubewachsene Wand vor dem Fenster. Sie kaute an ihrem Dau mennagel, während die Worte in ihrem Kopf herumschwirrten. Ich fürchte, dass sie viel besitzen wird, was andere ihr werden nehmen wollen. Vivien Jenkins hatte also reich geerbt. Das änderte alles. Sie war eine wohlhabende Frau gewesen, ausgestattet mit einem Charakter, so hatte ihre Vertraute zumindest gefürchtet, der sie zum perfekten Opfer für jene gemacht hatte, die sich an ihr würden bereichern wollen.
Laurel nahm ihre Brille ab, schloss die Augen und rieb sich den Nasenrücken. Geld. Eins der ältesten Motive für Verbrechen. Sie seufzte. Es war so primitiv, so vorhersehbar. Aber das musste es sein. Ihre Mutter war ganz und gar nicht der Mensch, der mehr begehrte, als er besaß, ganz zu schweigen davon, andere zu bestehlen. Aber das war heute. Die Dorothy Nicolson, die Laurel kannte, war Jahrzehnte älter als die junge, hungrige Frau, die sie einmal gewesen war; eine Neunzehnjährige, die ihre Familie in Coventry bei einem Bombenangriff verloren hatte und sich mitten im Krieg allein in
Weitere Kostenlose Bücher