Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Äußeren, an ihrem unbestreitbar hübschen, wenn auch ernsten Gesicht, es ist die Ahnung von etwas in ihrem tiefen Inneren, das einen unwillkürlich fesselt.
Ich sollte noch hinzufügen, dass die Kleine auf unheimliche Weise still ist. Während die anderen Kinder auf dem Deck herumrennen und Schabernack treiben, zieht sie es vor, sich zurückzuziehen und ganz in sich gekehrt dazusitzen. Es ist ein unnatürliches Stillsein, auf das ich nicht gefasst war.
Offenbar hatte Vivien Longmeyers faszinierende Wirkung auf Katy Ellis nicht nachgelassen, denn zwischen Kommentaren über die Reise und Notizen für Unterrichtspläne, die sie für ihre Arbeit in England brauchte, kam die Schreiberin immer wieder darauf zurück. Katy Ellis beobachtete Vivien aus der Entfernung, ließ sie, wenn möglich, in Ruhe, bis es laut einem Eintrag vom 5. Juli 1929 mit der Überschrift »Siebte Woche« zu einem Durchbruch kam:
Es war ein heißer Morgen, und der Wind kam von Norden. Wir saßen nach dem Frühstück zusammen auf dem Vorderdeck, als etwas sehr Merkwürdiges passierte. Ich bat Vivien, in die Kabine zu gehen und ihr Lehrbuch zu holen, damit wir ein paar Übungen machen konnten; ich habe ihrer Tante vor der Abreise versichert, dass der Unterricht auf der Reise nicht vernachlässigt werden würde (ich glaube, sie fürchtet, dass der englische Onkel das Kind wieder nach Australien zurückschicken könnte, falls er mit den geistigen Fähigkeiten der Kleinen nicht zufrieden ist). Unsere Unterrichtsstunden laufen immer nach dem gleichen Ritual ab: Ich zeige auf die Seiten im Buch, erkläre ihr die Lehrsätze, bis mir der Kopf raucht von der ständigen Suche nach leicht verständlichen Umschreibungen, während Vivien ausdrucks los und gelangweilt vor sich hinstarrt.
Aber ich habe es versprochen, und ich werde nicht nachgeben. Heute Morgen, und nicht zum ersten Mal, hat sich Vivien meinen Anweisungen widersetzt. Sie geruhte nicht einmal, mir in die Augen zu schauen, und ich war gezwungen, mich zu wiederholen, und zwar dreimal, in immer strengerem Ton. Immer noch ignorierte sie mich, sodass ich sie schließlich – den Tränen nahe – fragte, warum sie oft so tat, als könnte sie mich nicht hören.
Vielleicht rührte es sie, dass ich die Fassung verloren hatte, denn sie seufzte. Sie schaute mir in die Augen, und dann sprach sie mich ruhig an. Sie sagte, ich sei lediglich Teil ihres Traums, ein Produkt ihrer eigenen Fantasie, und daher sehe sie keinen Grund, mir zuzuhören, es sei denn, das Thema meines »Geredes« (wörtlich) interessiere sie.
Einem anderen Kind hätte man vielleicht Frechheit unterstellt und ihm für so eine Antwort die Ohren lang gezogen, aber Vivien ist nicht wie andere Kinder. Sie lügt nicht – ihre Tante, so viel sie auch an ihrer Nichte auszusetzen hatte, versicherte mir, ich würde niemals ein unwahres Wort aus dem Mund des Mädchens hören (»ehrlich bis zur Unverschämtheit, die Kleine«), und deswegen machten mich ihre Worte hellhörig. Bemüht um einen selbstsicheren Tonfall, fragte ich sie so beiläufig, als würde ich mich nach der Uhrzeit erkundigen, was sie damit meinte, ich sei Teil ihres Traums. Sie blinzelte mit ihren großen Augen und sagte: »Ich bin am Bach bei uns zu Hause eingeschlafen und noch nicht wieder aufgewacht.« Was seitdem passiert sei – der Autounfall ihrer Familie, dass man sie nach England verschickte, diese lange Reise mit einer Lehrerin als Begleitung –, das alles sei nichts weiter als ein langer Traum.
Ich fragte sie, warum sie denn nicht aufwachte, wie es möglich sei, dass jemand so lange schlief, worauf sie antwortete, das sei der Buschzauber. Sie sei unter großen Farnwedeln am Ufer eines verzauberten Bachs eingeschlafen (bei dem Bach mit den kleinen Lichtern, sagte sie, und dem Tunnel, der durch einen großen Maschinenraum bis ans andere Ende der Welt führt), deswegen wache sie nicht auf, wie sie es sonst getan hätte. Dann fragte ich sie, wie sie es denn merken würde, wenn sie aufgewacht sei. Sie legte den Kopf schief, als wäre ich begriffsstutzig: »Wenn ich die Augen aufmache und sehe, dass ich zu Hause bin, dann bin ich wieder wach.« Ist doch klar, schien ihr entschlossener Gesichtsausdruck hinzuzufügen.
Laurel blätterte weiter, bis Katy Ellis zwei Wochen später das Thema wieder aufnahm:
Ich versuche immer wieder – sehr vorsichtig –, etwas über Viviens Traumwelt in Erfahrung zu bringen, denn es scheint mir äußerst interessant, dass ein Kind ein
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