Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
gewaltsames Ereignis auf diese Weise zu verarbeiten sucht. Aus dem wenigen, was sie preisgibt, schließe ich, dass sie um sich herum eine Schattenwelt erschaffen hat, einen dunklen Ort, den sie durchschreiten muss, um zu ihrem schlafenden Selbst in der »echten Welt« des Bach ufers in Australien zurückzukehren. Sie sagte mir, sie glaube, dass sie manchmal kurz vor dem Aufwachen stehe; wenn sie ganz, ganz still sitzt, sagt sie, kann sie durch den Schleier hindurchsehen; dann kann sie ihre Eltern und Geschwister sehen und hören, die ihren normalen Beschäftigungen nachgehen, ohne zu merken, dass sie sie von der anderen Seite aus beobachtet.
Viviens Vorstellung vom Leben als Traum ist durchaus nachvollziehbar. Ich kann gut verstehen, dass ein Mensch sich in stinktiv in die Sicherheit einer imaginären Welt zurückzieht. Was mich allerdings beunruhigt, ist die Tatsache, dass Vivien geradezu froh zu sein scheint, wenn sie bestraft wird. Oder vielleicht nicht froh, das trifft es nicht genau, es ist eher Resignation, Erleichterung, wenn sie gemaßregelt wird. Neulich wurde ich Zeugin eines Zwischenfalls. Vivien wurde fälschlicherweise beschuldigt, den Hut einer älteren Dame vom Oberdeck gestohlen zu haben. Ich wusste, dass sie unschuldig war, denn ich hatte selbst gesehen, wie der scheußliche Kapotthut vom Wind über Bord geweht wurde. Vivien jedoch ließ sich vor meinen Augen – ich war einen Moment lang sprachlos – bereitwillig ausschimpfen. Und als die Frau ihr zusätzlich Schläge androhte, schien sie bereit, auch das zu akzeptieren. In ihrem Gesichtsausdruck lag beinahe so etwas wie Erleichterung. Inzwischen hatte ich meine Sprache wiedergefunden und schritt energisch ein, um der Ungerechtigkeit Einhalt zu gebieten. In kühlem Ton setzte ich die Anwesenden über das wahre Schicksal des Huts in Kenntnis und brachte Vivien in Sicherheit. Aber der Blick, den ich in ihren Augen gesehen hatte, bereitete mir noch lange Sorgen. Warum, frage ich mich, ist ein Kind bereit, eine Strafe zu akzeptieren, noch dazu für ein Verbrechen, das es gar nicht begangen hat?
Wenige Absätze später stieß Laurel auf folgende Passage:
Ich glaube, ich habe die Antwort auf eine meiner drängendsten Fragen gefunden. Ab und zu höre ich Vivien im Schlaf reden; manchmal schreit sie laut auf. Diese Phasen sind nur von kurzer Dauer und enden, sobald sie sich umdreht, aber neulich war es besonders schlimm, und ich bin aus dem Bett gesprungen, um sie zu beruhigen. Sie sprach sehr hastig, während sie sich an mich klammerte – so viel auf einmal habe ich sie noch nie reden hören –, und aus dem, was sie sagte, konnte ich mir zusammenreimen, dass sie sich aus irgendeinem Grund die Schuld am Tod ihrer Familie zuschreibt. Eine absurde Idee, gemessen an den Maßstäben eines Erwachsenen, denn soweit ich weiß, kam ihre Familie bei einem Autounfall ums Leben, während sie meilenweit entfernt war, aber in der Kindheit gelten andere Gesetze, und irgendwie (ich kann nicht umhin zu vermuten, dass die Tante sie in dem Glauben bestärkt hat) hat sich die Idee in ihrem Kopf festgesetzt.
Laurel blickte von Katy Ellis’ Tagebuch auf. Aus Bens Ecke kamen Geräusche, die klangen, als packte er seine Sachen zusammen, und sie warf bestürzt einen Blick auf ihre Uhr. Es war zehn vor eins – verdammt! Man hatte ihr mitgeteilt, dass die Bibliothek eine Stunde Mittagspause machte. Laurel suchte hektisch nach weiteren Einträgen zu Vivien, denn sie hatte das Gefühl, endlich voranzukommen, aber sie hatte keine Zeit, alles zu lesen. Sie überflog den Rest der Reiseaufzeichnungen, bis sie auf einen Eintrag stieß, der mit, wie es schien, zittrigerer Hand geschrieben worden war – wahrscheinlich im Zug nach York, wo Katy Ellis als Gouvernante in Stellung gehen würde.
Der Schaffner kommt, deswegen will ich in aller Eile das seltsame Verhalten meines Schützlings beschreiben, als wir gestern in London von Bord gingen. Kaum hatten wir die Gangway verlassen, und ich war gerade dabei, mich zu orientieren, wohin wir als Nächstes gehen mussten, als sie sich auf Hände und Füße fallen ließ – kein Gedanke an das Kleid, das ich extra gewaschen und zurechtgemacht hatte für ihre erste Begegnung mit ihrem Onkel – und ein Ohr an den Boden legte.
»Was machst du denn da?«, schrie ich. »Steh sofort auf!«
Worauf – wen hätte es wundern sollen – keine Reaktion kam.
»Was machst du da?«, fragte ich noch einmal.
Sie schüttelte den Kopf und sagte
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