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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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hätte sie beinahe gelä chelt, zumindest kam es ihm so vor. Es war schwer zu sagen, denn sie hatte sich schnell umgedreht und war ins Haus gegangen.
    An jenem Tag gingen die Proben vorbei wie im Flug. Die Kinder kamen in den Raum gestürmt und füllten ihn mit Licht und Lärm, und ehe sie sich’s versahen, rief die Glocke zum Mittagessen, und sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Jimmy war versucht, ihnen zu folgen, um der Peinlichkeit zu entgehen, mit Vivien allein zu sein, aber dann hätte er sich nur Vorwürfe gemacht wegen seiner Schwäche, und so blieb er und half ihr wie gewohnt dabei, das Schiff abzubauen.
    Er spürte, wie sie ihn beobachtete, während er die Stühle stapelte, aber er drehte sich nicht um; er wusste nicht, was er in ihren Augen erblicken würde, und er wollte sich nicht noch elender fühlen, als er es ohnehin schon tat. Ihre Stimme klang anders als sonst, als sie ihn schließlich fragte: »Warum waren Sie an dem Abend in der Kantine, Jimmy Metcalfe?«
    Jimmy hatte sie von der Seite angesehen. Sie hatte sich darangemacht, an der Hintergrundkulisse weiterzumalen, auf der Palmen und ein Sandstrand zu sehen waren. Es hatte etwas seltsam Förmliches, dass sie ihn mit seinem vollen Namen ansprach, und es ließ ihn aus irgendeinem Grund erschaudern. Er konnte ihr nicht von Dolly erzählen, das war klar, aber Jimmy war kein Lügner. »Ich war mit jemandem verabredet«, sagte er.
    Sie schaute ihn an, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
    Jimmy war noch nie besonders gut darin gewesen, im richtigen Moment den Mund zu halten. »Eigentlich hatten wir uns woanders treffen wollen«, sagte er, »aber dann bin ich stattdessen in die Kantine gegangen.«
    »Warum?«
    »Warum?«
    »Warum sind Sie nicht zu dem verabredeten Treffpunkt gegangen?«
    »Ich weiß nicht. Es war ein spontaner Einfall.«
    Vivien musterte ihn noch immer, ihr Gesicht verriet nichts, dann wandte sie sich wieder der Kulisse zu. »Ich bin froh, dass Sie es getan haben«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich bin wirklich froh, dass Sie es getan haben.«
    Von dem Tag an war alles anders. Es lag nicht an dem, was sie gesagt hatte, sosehr ihn das auch gefreut hatte, es war ein unerklärliches Gefühl, das in Jimmy erwacht war, als sie ihn angeschaut hatte, ein Gefühl der Verbundenheit, das ihn erneut erfüllte, als er sich später an das kurze Gespräch erinnerte. Nichts daran war besonders bedeutungsvoll gewesen, und doch hatte es etwas zu bedeuten. Das hatte Jimmy in dem Moment gespürt, und er spürte es immer noch, als Dolly sich am Abend nach seinen Fortschritten erkundigte und er nichts von dem Gespräch erwähnte. Dolly hätte sich darüber gefreut, daran zweifelte er nicht – sie hätte es als Beweis dafür aufgefasst, dass er dabei war, Viviens Vertrauen zu gewinnen –, aber Jimmy erwähnte es trotzdem nicht. Das Gespräch mit Vivien gehörte ihm allein. Es fühlte sich tatsächlich an wie ein Fortschritt, aber nicht wie ein Fortschritt von der Art, wie Dolly ihn sich vorstellte. Er wollte dieses Erlebnis nicht mit ihr teilen, er wollte es nicht beschmutzen.
    Am nächsten Tag traf Jimmy ungewöhnlich beschwingt im Krankenhaus ein. Aber als er die Eingangshalle betrat und Myra als Geschenk eine prächtige, reife Apfelsine überreichte (sie hatte Geburtstag), teilte sie ihm mit, Vivien sei nicht da. »Es geht ihr nicht gut. Sie hat heute Morgen angerufen und gesagt, sie müsse das Bett hüten. Sie lässt fragen, ob Sie die Probe heute leiten können.«
    »Selbstverständlich«, antwortete Jimmy, fragte sich jedoch, ob Viviens Abwesenheit etwas mit dem zu tun haben könnte, was zwischen ihnen vorgefallen war. Stirnrunzelnd betrachtete er den Boden, dann blickte er auf und sagte zu Myra: »Sie ist krank, sagten Sie?«
    »Sie hörte sich gar nicht gut an, die Ärmste. Aber nun machen Sie nicht so ein Gesicht! Sie wird sich schon wieder erholen. Sie ist zäh.«
    Aber zur nächsten Probe erschien Vivien auch nicht.
    »Sie muss immer noch das Bett hüten«, sagte Myra, als Jimmy ein paar Tage später durch die Tür kam. »Das ist das Beste, was sie tun kann.«
    »Ist es ernst?«
    »Ich glaube nicht. Sie hat ein bisschen Pech gehabt, die Ärmste, aber sie wird bald wieder auf den Beinen sein. Sie hält es nie lange ohne die Kinder aus.«
    »Ist das schon öfter vorgekommen?«
    Myra lächelte, aber gleichzeitig legte sie die Stirn in Falten, als wäre ihr etwas klar geworden, was ihr Mitgefühl weckte. »Jeder macht mal

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