Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
wandte der Junge mit der Brille ein. »Nicht so hoch oben.«
Vivien hatte das Gespräch mit ernster Miene verfolgt, offenbar in der Hoffnung, dass Jimmy seinen Vorschlag wieder zurücknehmen und endlich verschwinden würde. Aber er brachte es einfach nicht fertig. Er konnte sich genau vorstellen, wie großartig es aussehen würde, und es gab sogar verschiedene Möglichkeiten, wie man es hinbekommen konnte. Sie könnten zum Beispiel eine Leiter in eine Ecke stellen oder den Scheinwerfer an einem Besenstiel befestigen und ihn wie an einer Angel hin und her bewegen, oder … »Ich mache es«, sagte er plötzlich. »Ich werde den Scheinwerfer bedienen.«
»Nein!« Vivien stand auf.
»Doch!«, riefen die Kinder wie aus einem Mund.
»Das können Sie nicht machen«, sagte Vivien mit eisigem Blick. »Und Sie werden es auch nicht tun.«
»Doch! Bitte! Er soll es machen!«, riefen die Kinder.
In dem Moment entdeckte Jimmy Nella, die auf dem Boden saß. Sie winkte ihm zu und drehte sich dann mit vor Stolz leuchtenden Augen zu den anderen um. Wie konnte er Nein sagen? Jimmy sah Vivien an und hob die Hände, eine nicht ganz ernst gemeinte Geste der Entschuldigung, dann grinste er die Kinder an. »Alles klar«, sagte er. »Ich bin dabei. Ihr habt eine neue Tinkerbell.«
Später konnte Jimmy es selbst kaum glauben, aber als er sich angeboten hatte, in dem Theaterstück die Rolle der Tinkerbell zu übernehmen, hatte er vollkommen vergessen, dass er eigentlich gekommen war, um Vivien zu einem Treffen zu überreden. Er war viel zu begeistert gewesen von seiner Idee, wie die Kinder die Fee mit seinem Fotografenscheinwerfer würden darstellen können. Aber Dolly hatte damit kein Problem. »Jimmy, du bist einfach unschlagbar«, sagte sie und zog aufgeregt an ihrer Zigarette. »Ich hab’s doch gewusst, dass dir etwas einfallen würde.«
Jimmy akzeptierte das Lob und ließ sie in dem Glauben, es gehöre alles zu einem ausgeklügelten Plan. Sie war neuerdings so glücklich, und er war so froh, seine alte Doll wiederzuhaben. »Ich muss die ganze Zeit an unser Haus an der Küste denken«, sagte sie manchmal abends, wenn sie ihn durch das Fenster in Mrs. Whites Vorratskammer geschmuggelt hatte und sie sich in ihrem schmalen Bett zusammenkuschelten. »Denk doch nur, wie das sein wird! Unsere Kinder um uns herum, später unsere Enkelkinder. Wie wir zusammen alt werden und unsere Enkel uns in ihren fliegenden Autos besuchen kommen. Wir könnten uns so eine Schaukel mit einer Bank kaufen – was hältst du davon, mein Schatz?«
Jimmy sagte, ja, das wäre wunderbar. Und dann küsste er sie noch einmal auf den Hals und brachte sie zum Lachen und dankte Gott für die Vertrautheit und die Wärme zwischen ihnen. Ja, er wünschte sich dasselbe wie sie; er wünschte es sich so sehr, dass es schmerzte. Wenn es ihr gefiel anzunehmen, dass er und Vivien zusammenarbeiteten und sich anfreundeten, dann war er bereit, sie in dem Glauben zu lassen.
Die Wirklichkeit jedoch sah ganz anders aus. Seit Wochen ging er, so oft er es irgendwie einrichten konnte, zu den Proben, und jedes Mal begegnete Vivien ihm mit überraschender Feindseligkeit. Er konnte kaum glauben, dass sie dieselbe Frau war, mit der er sich an jenem Abend in der Kantine unterhalten hatte, die Frau, die ihm, als sie sein Foto gesehen hatte, von Nella und ihrer Arbeit in dem Krankenhaus erzählt hatte. Jetzt verhielt sie sich so, als wäre es unter ihrer Würde, überhaupt mit ihm zu sprechen. Er hatte damit gerechnet, dass sie sich kühl geben würde – Dolly hatte ihn zwar gewarnt, wie grausam Vivien Jenkins sein konnte, wenn sie einen Groll auf einen hatte –, aber es versetzte ihn in Erstaunen, wie persönlich ihr Hass war. Sie kannten sich kaum, und sie konnte unmöglich etwas von seiner Verbindung zu Dolly wissen.
Einmal lachten sie beide über etwas Witziges, was eins der Kinder getan hatte, und Jimmy hatte sie angeschaut, um den Moment mit ihr zu teilen. Sie hatte seinen Blick gespürt und reagiert, aber als sie ihn lächeln sah, war der glückliche Ausdruck in ihrem Gesicht sofort verschwunden. Viviens Feindseligkeit brachte Jimmy in eine Zwickmühle. Einerseits kam es ihm entgegen, dass sie ihn so sehr verabscheute – wenn sie ihn wie ein Nichts behandelte, lag ihm die Vorstellung, dass Dolly und er sie erpressen wollten, nicht ganz so schwer auf der Seele. Andererseits sah er keine Möglichkeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen, wenn es ihm nicht gelang, ihr Vertrauen und
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