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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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ihre Zuneigung zu gewinnen.
    Also gab Jimmy nicht auf, es zu versuchen. Er verdrängte seine Wut über Viviens Feindseligkeit, über ihren Verrat an Dolly, über die Art, wie sie sein strahlendes Mädchen in tiefe Selbstzweifel gestürzt hatte, und konzentrierte sich darauf, wie großartig sie mit den Waisenkindern umgehen konnte. Es war bewundernswert, wie es ihr gelang, eine Welt für sie zu erschaffen, in die sie eintauchen konnten, sobald sie durch die Tür ka men, in der sie alles Leid und alle Traurigkeit vergessen konnten. Und wie sie die Kinder in ihren Bann schlug, wenn sie ihnen nach den Proben Geschichten erzählte, von Tunneln, die bis ans andere Ende der Welt reichten, und dunklen, verzauberten Bächen ohne Grund, und von winzigen Lichtern im Wasser, die die Kinder lockten, doch ein bisschen näher zu kommen …
    Und mit der Zeit gewann Jimmy den Eindruck, dass Vivien Jenkins’ Ablehnung nachließ; dass sie ihn nicht mehr so abgrundtief hasste wie zu Anfang. Zwar wich sie nach wie vor jedem Gespräch aus und nahm seine Kommentare höchstens mit einem knappen Nicken zur Kenntnis, aber manchmal sah Jimmy, wie sie ihn anschaute, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, und dann hatte er jedes Mal den Eindruck, dass in ihrem Ausdruck nicht Abscheu lag, sondern Nachdenklichkeit, ja, sogar Neugier. Er spürte, wie das Verhältnis zwischen ihnen – nun, nicht unbedingt wärmer wurde, aber doch allmählich auftaute, und an einem Tag Mitte April, als die Kinder zum Mittagessen nach unten gegangen waren und er Vivien dabei half, das Schiff abzubauen, fragte er sie, ob sie selbst Kinder habe.
    Er hatte nur ein bisschen Konversation machen wollen, aber Vivien war wie zu Stein erstarrt, und ihm war sofort klar geworden, dass er einen Fehler begangen hatte und dass es zu spät war, die Frage zurückzunehmen.
    »Nein«, entgegnete sie pikiert. Sie räusperte sich. »Ich kann keine Kinder bekommen.«
    In dem Moment hatte Jimmy sich gewünscht, er könnte durch einen Tunnel bis ans andere Ende der Welt flüchten. Er murmelte ein »Tut mir leid«, worauf Vivien ein Nicken andeutete. Dann faltete sie das Segel zusammen, verließ den Raum und zog die Tür hinter sich zu.
    Er kam sich vor wie ein kompletter Idiot. Nicht dass er vergessen hätte, warum er eigentlich dort war – was für ein Mensch sie war, was sie Dolly angetan hatte –, aber es war einfach so, dass es Jimmy widerstrebte, einem anderen Menschen wehzutun. Bei dem Gedanken daran, wie sie erstarrt war, als er ihr die Frage gestellt hatte, wurde ihm ganz flau im Magen. Er musste immer daran denken. Während er an dem Abend in der Stadt unterwegs war, um Fotos von den neuesten Bombenschäden zu machen, während er seine Kamera auf die armen Geschöpfe richtete, die sich in die Heerscharen der Obdachlosen und Trauernden einreihen würden, zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er seinen Fauxpas wiedergutmachen könnte.
    Am nächsten Tag traf er etwas früher als gewöhnlich am Kran kenhaus ein und wartete nervös rauchend auf der anderen Straßenseite auf sie. Er hätte sich auf die Eingangsstufen gesetzt, aber er hatte das ungute Gefühl, dass sie auf dem Absatz kehrtmachen würde, sobald sie ihn erblickte.
    Als sie um die Ecke geeilt kam, trat er seine Zigarette aus und ging ihr entgegen. Er reichte ihr ein Foto.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    »Nichts Besonderes«, sagte er, während sie das Foto hin und her drehte. »Ich habe es für Sie aufgenommen. Es hat mich an Ihre Geschichte erinnert, wissen Sie, die Geschichte von dem Bach mit den kleinen Lichtern und von den Menschen auf der anderen Seite des Schleiers.«
    Sie betrachtete das Foto.
    Er hatte es bei Tagesanbruch gemacht; die Glasscherben in der Ruine hatten im Sonnenlicht geglitzert und gefunkelt, und durch den aufsteigenden Rauch konnte man die schattenhaften Gestalten der Menschen ausmachen, die gerade aus dem Luftschutzkeller gekommen waren, der ihnen das Leben gerettet hatte. Jimmy hatte nicht geschlafen, seit er das Foto aufgenommen hatte, weil er auf direktem Weg in die Redaktion geeilt war, um es für Vivien zu entwickeln.
    Sie sagte nichts, und ihr Gesichtsausdruck ließ Jimmy befürchten, dass sie anfangen würde zu weinen.
    »Es tut mir schrecklich leid«, sagte er. »Das, was ich gestern gesagt habe. Ich habe Sie gekränkt. Das wollte ich nicht.«
    »Das konnten Sie ja nicht wissen.« Sie steckte das Foto vorsichtig in ihre Tasche.
    »Trotzdem …«
    »Sie konnten es nicht wissen.« Dann

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