Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
gerichtet ist, dann wird dir schon was einfallen.«
Laurel unterdrückte ein Lächeln. In letzter Zeit erntete sie so viel Lob, dass es Spaß machte, sich mit einer Expertin zu zanken.
Rose jedoch, die es immer gern friedlich hatte, wurde langsam nervös. »Seht mal«, sagte sie und wies mit beiden Händen in Richtung einer Baustelle am Stadtrand. »Da kommt der neue Supermarkt hin. Soll man es für möglich halten? Als würden die drei, die wir haben, nicht ausreichen.«
»Ja, wirklich, es ist absolut lächerlich …«
Dankbar, dass Rose Iris geschickt abgelenkt hatte, konnte Laurel sich wieder zurücklehnen und aus dem Fenster schauen. Sie fuhren durch die Stadt, immer die High Street entlang, von der es schließlich auf einen Feldweg ging, der sich in sanften Kurven durch die Landschaft schlängelte. Die Strecke war Laurel so vertraut, dass sie mit verbundenen Augen jederzeit gewusst hätte, wo sie sich gerade befand. Das Gespräch zwischen ihren Schwestern verstummte, als die Straße immer schmaler wurde, bis die dichten Baumkronen über ihnen einen Tunnel bildeten und Iris den Blinker betätigte, um in die Einfahrt zur Greenacres Farm einzubiegen.
Das Haus thronte wie seit jeher auf dem von Feldern umgebenen Hügel. Iris parkte auf dem ebenen Platz, an dem der alte Morris Minor ihres Vaters immer gestanden hatte, bis ihre Mutter sich endlich dazu durchgerungen hatte, ihn zu verkaufen. »Das Dach müsste auch mal ausgebessert werden«, bemerkte Iris.
Rose stimmte ihr zu. »Es gibt dem Haus etwas Trauriges, findet ihr nicht? Kommt, ich zeige euch die neuesten undichten Stellen.«
Laurel schlug die Autotür zu, folgte Rose und Iris jedoch nicht durch die kleine Gartenpforte. Die Hände in den Taschen, blieb sie stehen, um das gesamte Bild in sich aufzunehmen – vom Garten bis hin zu den Schornsteinaufsätzen im Hintergrund und alles dazwischen. Das Sims, von dem aus sie Daphne in einem Korb heruntergelassen hatten, den Balkon, den sie mithilfe der Schlafzimmervorhänge in eine Bühne verwandelt hatten, den Dachboden, wo Laurel ihre ersten Zigaretten geraucht hatte.
Der Gedanke kam ganz plötzlich: Das Haus erinnerte sich an sie.
Laurel hielt sich nicht für eine Romantikerin, aber das Gefühl war intensiv, und einen Augenblick lang glaubte sie tatsächlich, dass dieses Gebilde aus Holzbalken, roten Backsteinen, fleckigen Dachpfannen und windschiefen Erkerfenstern eine Erinnerung haben konnte. Sie spürte, wie das Haus sie durch jede Fensterscheibe beobachtete und einen Bogen zurück in die Vergangenheit schlug, um in dieser älteren Frau im Designerkostüm das junge Mädchen zu erkennen, das einst für James Dean geschwärmt hatte. Was mochte das Haus wohl von der Frau denken, zu der sie geworden war?, fragte sich Laurel.
Ein idiotischer Gedanke. Das Haus dachte gar nichts! Häuser erinnerten sich nicht an Menschen. Sie war es, Laurel, die von Erinnerungen heimgesucht wurde. Und warum sollte sie sich auch nicht erinnern? Schließlich hatte sie von ihrem zweiten bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr in diesem Haus gewohnt. Natürlich war es ziemlich lange her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war – obwohl sie ihre Mutter halbwegs regelmäßig im Pflegeheim besuchte, schaffte sie es irgendwie nie bis nach Greenacres. Sie hatte immer so viel um die Ohren. Laurel schaute zum Baumhaus hinüber. Sie sorgte dafür, dass sie immer viel um die Ohren hatte.
»Hast du schon vergessen, wo die Haustür ist?«, rief Iris aus der Diele. »Ah, verstehe – Madam wartet, dass der Butler rauskommt und ihr Gepäck trägt!«
Laurel verdrehte die Augen wie ein Teenager, nahm ihren Koffer und ging zum Haus. Über denselben mit Backsteinen gepflasterten Weg, den ihre Mutter an einem Sommerabend vor über sechzig Jahren gegangen war …
Als Dorothy Nicolson Greenacres Farm sah, wusste sie sofort, dass dies der Ort war, wo sie eine Familie gründen wollte. Eigentlich dürfte sie gar nicht nach einem Haus Ausschau halten. Der Krieg war erst wenige Jahre zu Ende, sie hatten kaum Geld, und ihre Schwiegermutter hatte ihnen großzügig ein Zimmer in ihrer Pension zur Verfügung gestellt (im Austausch für die Erledigung anfallender Arbeiten natürlich – man war schließlich kein Wohltätigkeitsverein). Eigentlich waren Dorothy und Stephen heute nur zu einem Picknick unterwegs.
Es war Mitte Juli, einer ihrer seltenen freien Tage, und, was noch seltener vorkam, Stephens Mutter hatte sich erboten, auf die kleine Laurel
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