Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
aufzupassen. Sie waren früh aufgestanden, hatten einen Korb und eine Decke auf den Rücksitz geworfen und waren mit dem Morris Minor zu einer Fahrt ins Blaue aufgebrochen. Eine Zeit lang waren sie nach Lust und Laune den Feldwegen in Richtung Westen gefolgt – ihre Hand auf seinem Bein, sein Arm um ihre Schultern, warme Luft, die durch die Fenster hereinwehte –, und so wären sie immer weitergefahren, wenn nicht nach einer knappen Stunde ein Reifen geplatzt wäre.
Sie hielten am Straßenrand, um den Schaden zu begutachten. Der Übeltäter war schnell ausgemacht: ein rostiger Nagel, der noch aus dem Gummi ragte, wo er ein großes Loch gerissen hatte.
Doch sie waren jung und verliebt, und sie hatten nicht viel gemeinsame Freizeit, und so machten sie das Beste aus der Situation. Während ihr Mann den Reifen wechselte, spazierte Dorothy den grasbewachsenen Hügel hoch, auf der Suche nach einem geeigneten Picknickplatz. Und als sie oben ankam, sah sie das Haus mit dem Namen Greenacres.
All das hatte Laurel sich nicht aus den Fingern gesogen. Die Geschwister kannten die Geschichte vom Kauf des Bauernhauses in-und auswendig. Der skeptische alte Bauer, der sich den Kopf gekratzt hatte, als Dorothy an die Tür klopfte; das Nest mit den brütenden Vögeln im offenen Kamin, als der Bauer ihnen im Wohnzimmer Tee eingeschenkt hatte; die Löcher im Boden, mit Holzplanken abgedeckt, die wie schmale Brücken waren. Vor allem zweifelte keins der Geschwister an dem Umstand, dass ihre Mutter auf den ersten Blick gewusst hatte, dass sie genau in diesem Haus leben wollte.
Das Haus, so hatte sie ihnen viele Male erzählt, habe mit ihr gesprochen; sie habe zugehört, und sie hätten sich auf Anhieb prächtig verstanden. Greenacres sei eine zänkische alte Dame gewesen, ein bisschen heruntergekommen, zugegeben, und ein bisschen schrullig – aber war das so verwunderlich? Unter der Baufälligkeit verbarg sich große Würde. Das Haus war stolz, aber einsam, ein Ort, der sich nach Kinderlachen sehnte, nach der Liebe einer Familie und dem Duft nach Lammbraten mit Rosmarin im Ofen. Die alte Dame verfügte über gesunde, kräftige Knochen und war gewillt, nach vorn zu blicken und nicht zurück, war bereit für eine neue Familie und ihre neuen Gebräuche. Zum ersten Mal kam Laurel der Gedanke, dass die Beschreibung des Hauses, die ihre Mutter ihnen gegeben hatte, ein Selbstporträt gewesen sein könnte.
Laurel trat die Schuhe auf der Fußmatte ab und ging hinein. Der Dielenfußboden knarzte auf vertraute Weise, die Möbel standen, wo sie immer standen, und doch fühlte sich alles anders an. Es hing ein fremder Geruch in den Räumen, die Luft war stickig, was verständlich war, schließlich stand das Haus leer, seit Dorothy im Pflegeheim untergebracht war. So oft es ihre Großmutterpflichten erlaubten, kam Rose vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, und auch Phil, ihr Mann, tat, was er konnte, aber es war kein Vergleich zu einem bewohnten Haus. Es war verstörend, dachte Laurel mit einem Schaudern, wie schnell die Präsenz eines Menschen sich verflüchtigte, wie kampf los das Belebte der Leere wich.
Sie sollte nicht so verdammt trübsinnig sein, schalt sie sich und stellte ihre Taschen aus Gewohnheit zu den anderen unter den Tisch in der Diele. Dann holte sie tief Luft und ging in die Küche. Hier hatten sie als Kinder ihre Hausaufgaben gemacht, hier waren ihre Schürfwunden verarztet worden, hier hatten sie geweint, wenn ihnen etwas das Herz gebrochen hatte; wenn sie nach Hause kamen, waren alle immer als Erstes in die Küche gegangen. Rose und Iris waren bereits da.
Rose drückte auf den Lichtschalter neben dem Kühlschrank, und die Leitungen begannen zu summen. Strahlend rieb sie sich die Hände. »Soll ich einen Tee aufsetzen?«
»Großartige Idee«, sagte Iris, streifte ihre Pumps ab und streckte ihre schwarz bestrumpften Zehen wie eine ungeduldige Balletttänzerin.
»Ich hab Wein mitgebracht«, sagte Laurel.
»Super. Vergiss den Tee.«
Laurel ging in die Diele, um eine Flasche aus ihrem Koffer zu holen, und Iris holte Gläser aus der Anrichte. »Rose?« Sie hielt ein Glas hoch und blinzelte Rose über den Rand ihrer Katzenaugenbrille hinweg an. Ihre Augen waren genauso dunkelgrau wie ihr kurzes Haar.
»Hm.« Rose fummelte an ihrer Armbanduhr. »Ich weiß nicht. Es ist gerade erst fünf.«
»Ach, komm schon, Rosie«, sagte Laurel, während sie in einer Schublade mit leicht klebrigem Besteck nach einem Korkenzieher suchte. »Da
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