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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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packen, ohne zurückzuschauen. Wie geplant an die Küste fahren und noch einmal von vorn anfangen.
    Die Flugzeuge, die fallenden Bomben, die Flakgeschütze hörte sie nur wie aus weiter Ferne. Die Erde erbebte bei jeder Explosion, und Putz rieselte von der Decke. Die Türkette klapperte, aber Dolly bekam nichts davon mit. Ihr Koffer war gepackt – sie war bereit zu gehen.
    Sie stand auf und schaute Vivien an. Trotz ihrer Entschlossenheit zögerte sie. »Und Sie?«, fragte Dolly, dann schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie doch zusammen fortgehen konnten, dass Vivien vielleicht mitkommen würde. Seltsamerweise schien das die perfekte Lösung zu sein, das einzig Richtige – sie hatten beide getan, was zu tun gewesen war, und nichts davon wäre geschehen, wenn Dolly und Vivien sich nicht kennengelernt hätten.
    Natürlich war der Gedanke absurd – Vivien brauchte keine zweite Chance. Sie hatte hier in London alles, was sie sich nur wünschen konnte. Ein schönes Haus, Geld im Überfluss, jeden denkbaren Luxus … Vivien drückte Dolly Mrs. Nicolsons Stellenanzeige in die Hand und lächelte mit Tränen in den Augen. Sie wussten beide, dass sie sich nie wiedersehen würden. »Ma chen Sie sich um mich keine Sorgen«, sagte Vivien, als ein Bom ber über sie hinwegdröhnte. »Mir wird nichts passieren. Ich gehe nach Hause.«
    Die Stellenanzeige in der Hand, nickte Dolly und machte sich auf den Weg in ihr neues Leben, ohne zu wissen, was die Zukunft für sie bereithielt, aber entschlossen, sich ihr zu stellen.

4
    Suffolk, 2011
    S ie fuhren vom Pflegeheim in Iris’ Auto zurück. Obwohl sie die Älteste war und aus Tradition ein Anrecht auf den Beifahrersitz hatte, nahm Laurel auf der mit Hundehaaren über säten Rückbank Platz. Ihre Position als Erstgeborene wurde verkompliziert durch ihre Berühmtheit; die anderen sollten schließlich nicht denken, dass sie Starallüren habe. Sie saß sowieso lieber hinten. Befreit von der Pflicht, sich an Gesprächen zu beteiligen, konnte sie so in Ruhe ihren eigenen Gedanken nachhängen.
    Es hatte aufgehört zu regnen, und die Sonne schien. Laurel hätte Rose gern nach Vivien gefragt – den Namen hatte sie schon einmal gehört, da war sie sich ganz sicher. Mehr noch, sie wusste, dass er irgendetwas mit jenem schrecklichen Tag im Jahr 1961 zu tun hatte. Aber sie hielt sich zurück. Iris’ Neugier, einmal geweckt, konnte äußerst anstrengend sein, und Laurel war noch nicht so weit, um sich inquisitorischen Fragen zu stellen. Während ihre Schwestern miteinander plauderten, betrachtete sie die vorbeifliegenden Felder. Trotz der geschlossenen Fenster konnte sie das frisch gemähte Gras riechen und die Rufe der Häher hören. Die Landschaft, in der man seine Kind heit verlebt hatte, weckte lebhaftere Assoziationen als jede andere. Es spielte keine Rolle, wo sie sich befand oder wie sie aussah, sie prägte sich mit all ihren Farben und Geräuschen auf ganz besondere Weise ein. Sie wurde zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit, unentrinnbar.
    Die vergangenen fünfzig Jahre kamen ihr vor wie ein flüchtiger Moment, und Laurel sah sich selbst auf ihrem grünen Fahrrad an den Hecken vorbeirasen, eine ihrer Schwestern vorne auf dem Lenker. Sonnengebräunte Haut, blonde Härchen an den Beinen, der ewige Schorf an den Knien. Als wäre es gestern gewesen.
    »Ist es fürs Fernsehen?«
    Laurel blickte auf und sah, dass Iris sie im Rückspiegel anschaute. »Wie?«, sagte sie.
    »Das Interview, das dich so viel Zeit kostet.«
    »Ach das. Es ist eigentlich eine Interview-Reihe. Das letzte wird am Montag aufgenommen.«
    »Ja, Rose hat gesagt, dass du früher nach London zurückmusst. Ist es fürs Fernsehen?«
    Laurel nickte. »Eine Filmbiografie, ungefähr eine Stunde lang. Es sind auch Interviews mit anderen Leuten geplant – mit Regisseuren und Schauspielern, mit denen ich zusammengearbeitet habe – vermischt mit altem Filmmaterial, Zeugs aus der Kindheit …«
    »Hast du das gehört, Rose«, sagte Iris spitz. »Zeugs aus der Kindheit.« Sie hob sich ein bisschen aus dem Sitz, um Laurel im Rückspiegel einen finsteren Blick zuzuwerfen. »Ich wäre dir dankbar, wenn du alle Schnappschüsse, auf denen ich als kleines Kind halb oder ganz nackt zu sehen bin, unter Verschluss halten würdest.«
    »Das ist aber wirklich schade«, sagte Laurel und zupfte ein weißes Haar von ihrer Hose. »Mein bestes Material. Worüber soll ich denn jetzt noch reden?«
    »Sorg dafür, dass die Kamera auf dich

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