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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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geriet, schien Vivien sich zusehends zu entspannen. Sie sprach jetzt ruhiger, in leisen Sätzen, die Dolly nur mühsam verstand, über einen Brief und eine Fotografie, über schlechte Männer, gefährliche Männer, die auf der Suche nach Jimmy waren. Der Plan sei schrecklich fehlgeschlagen, sagte Vivien; er sei gedemütigt worden; Jimmy habe es nicht ins Restaurant geschafft; sie habe dort auf ihn gewartet, aber er sei nicht gekommen; da habe sie gewusst, dass er wirklich fort war.
    Und plötzlich fügten die einzelnen Teile sich zusammen, der Nebel verflüchtigte sich, und Dolly begriff. »Es ist meine Schuld«, sagte sie so leise, dass es kaum ein Flüstern war. »Aber i ch … Ich weiß nicht, wie … das Foto … Wir hatten doch beschlossen, es nicht zu tun, es war nicht nötig, nicht mehr.« Vivien wusste, was sie meinte: Ihretwegen waren die Pläne geändert worden. Dolly berührte den Arm ihrer Freundin. »Das war alles nicht so geplant. Und jetzt ist Jimmy …«
    Vivien nickte, in ihrem Gesichtsausdruck lagen Mitgefühl und Zuneigung. »Hören Sie zu«, sagte sie. »Es ist sehr wichtig, dass Sie mir zuhören. Die wissen, wo Sie wohnen, und sie werden Sie holen.«
    Dolly wollte es nicht glauben; sie hatte Angst. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. »Es ist meine Schuld«, hörte sie sich sagen. »Es ist alles meine Schuld.«
    »Dolly, bitte !« Eine neue Welle Bomber näherte sich, und Vivien musste schreien, um sich Gehör zu verschaffen, während sie Dollys Hand hielt. »Es ist ebenso meine Schuld wie Ihre. Das alles spielt jetzt keine Rolle. Sie kommen. Wahrscheinlich sind sie schon auf dem Weg hierher. Deswegen bin ich hier.«
    »Aber ich …«
    »Sie müssen London verlassen, jetzt gleich, und Sie dürfen nicht zurückkommen. Die werden nicht aufhören, Sie zu suchen, niemals …«
    Eine Explosion draußen ließ das Haus erbeben; die Bomben fielen jetzt ganz in der Nähe, und obwohl es kein Fenster gab, erhellte ein unheimlicher Blitz das Zimmer – viel heller als die trübe Glühbirne an der Decke.
    »Haben Sie irgendwo Verwandte?«, drängte Vivien.
    Dolly schüttelte den Kopf, während vor ihrem geistigen Auge ihre Familie auftauchte; ihre Mutter und ihr Vater, ihr armer kleiner Bruder, alles, wie es früher gewesen war. Eine Bombe schoss draußen mit einem pfeifenden Geräusch vorbei, und vom Boden her antworteten Flakgeschütze.
    »Freunde?«, schrie Vivien gegen den Lärm.
    Wieder schüttelte Dolly den Kopf. Es war niemand mehr da, niemand, auf den sie zählen konnte, niemand außer Vivien und Jimmy.
    »Gibt es irgendeinen Ort, wo Sie hinkönnen?« Noch eine Bombe, dem Geräusch nach zu urteilen ein Molotow-Brot korb, und die Explosion war so laut, dass Dolly die Worte von Viviens Lippen ablesen musste: »Denken Sie nach, Dolly! Sie müssen nachdenken!«
    Sie schloss die Augen. Es roch nach Feuer; in der Nähe musste eine Brandbombe eingeschlagen sein; die Feuerwehr war bestimmt schon mit ihren Pumpen vor Ort. Dolly hörte jemanden schreien, aber sie schloss die Augen noch fester und versuchte, sich zu konzentrieren. Ihre Gedanken waren wie eine düstere Trümmerlandschaft; sie konnte nichts sehen, der Boden unter ihren Füßen war zerklüftet, die Luft zu dick zum Atmen.
    »Dolly?«
    Es kamen immer mehr Flugzeuge, nicht nur Bomber, sondern auch Kampfflieger. Dolly stellte sich vor, sie stünde in der Campden Grove auf dem Dach und schaute den Flugzeugen zu, die am Himmel ihre Manöver vollführten, den grünen Suchscheinwerfern, die die Flugzeuge zu erfassen versuchten, den Feuersbrünsten in der Ferne. Das alles war auf einmal ein aufregendes Spiel.
    Sie dachte an die Nacht mit Jimmy: wie sie sich vor dem 400 Club getroffen hatten, wie sie getanzt und gelacht hatten; wie sie zusammen während der Bombardierung nach Hause gegangen waren. Sie hätte alles darum gegeben, noch einmal zu jener Nacht zurückkehren zu können, neben Jimmy zu liegen, mit ihm zu flüstern, Zukunftspläne zu schmieden, von dem Bauernhaus zu träumen, das sie haben würden, von den Kindern, vom Strand und vom Meer. Das Meer …
    »Ich habe mich um eine Stelle beworben«, sagte sie unvermittelt und hob den Kopf. »Vor ein paar Wochen. Jimmy hat sie für mich gefunden.« Der Brief von Mrs. Nicolson, der Besitzerin der Pension »Sea Blue«, lag auf dem kleinen Nachttisch. Dolly nahm ihn und reichte ihn Vivien mit zitternden Fingern.
    »Ja«, murmelte Vivien, während sie den Brief überflog. »Perfekt. Gehen Sie sofort

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