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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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dorthin!«
    »Ich will nicht allein dahin. Wir …«
    »Dolly!«
    »Wir wollten zusammen dahin. So war es nicht geplant. Er wollte auf mich warten.«
    Dolly weinte. Vivien wollte sie in den Arm nehmen, aber im selben Moment machte Dolly eine Bewegung, und sie stießen heftig gegeneinander.
    Vivien entschuldigte sich nicht; ihr Gesichtsausdruck war ernst. Sie hatte auch Angst, das sah Dolly, aber sie schob ihre Ängste beiseite, wie eine große Schwester es tun würde, und redete in einem ernsten, strengen Ton, den Dolly jetzt brauchte. »Dorothy Smitham«, sagte sie, »Sie müssen London verlassen, und Sie dürfen keine Zeit verlieren!«
    »Ich fürchte, ich kann das nicht.«
    »Ich weiß, dass Sie es können. Sie sind eine Überlebenskünstlerin.«
    »Aber Jimmy …« Wieder zischte eine Bombe vorbei und explodierte. Ein schrecklicher Schrei entrang sich Dollys Kehle, ehe sie ihn unterdrücken konnte.
    »Genug.« Vivien nahm Dollys Gesicht mit beiden Händen. Sie schaute Dolly liebevoll an. »Ich weiß, dass Sie Jimmy lieben; und er liebt Sie auch – Gott, das weiß ich nur zu gut. Aber Sie müssen jetzt auf mich hören.«
    In Viviens Blick lag etwas unglaublich Beruhigendes, und es gelang Dolly, das Geräusch eines Sturzkampfbombers, das Rattatat der Flak und die entsetzlichen Gedanken an einstürzende Gebäude und Menschen, die zermalmt wurden, auszublenden.
    Die beiden jungen Frauen hockten eng umschlungen auf der Bettkante. »Gehen Sie noch heute Abend zum Bahnhof«, sagte Vivien, »und kaufen Sie sich eine Fahrkarte. Sie müssen …« Eine Bombe schlug ganz in der Nähe ein, und Vivien zuckte zusammen. Dann fuhr sie hastig fort: »Steigen Sie in den Zug und fahren Sie bis zur Endstation. Schauen Sie nicht zurück. Nehmen Sie die Stelle an, und führen Sie ein glückliches Leben.«
    Ein glückliches Leben. Genau davon hatten Dolly und Jimmy geträumt. Die Zukunft, das Bauernhaus, die lachenden Kinder und die frei herumlaufenden Hühner … Tränen liefen über Dollys Wangen, als Vivien sagte: »Sie müssen fortgehen.« Inzwischen weinte sie auch, weil Dolly ihr natürlich fehlen würde – sie würden einander fehlen. »Lassen Sie sich die Gelegenheit nicht entgehen, Dolly, betrachten Sie es als eine zweite Chance. Nach allem, was Sie durchgemacht haben, nach allem, was Sie verloren haben …«
    Da wusste Dolly, dass Vivien recht hatte, egal wie schwer es ihr fiel, das zu akzeptieren – sie musste fort. Einerseits hätte sie am liebsten »Nein!« geschrien und sich hier in ihrem Zimmer verkrochen und um alles geweint, was sie verloren hatte, um alles, was in ihrem Leben nicht so gekommen war, wie sie es sich erhofft hatte, aber das tat sie nicht. Sie konnte es nicht.
    Dolly war eine Überlebenskünstlerin, hatte Vivien gesagt, und Vivien wusste, wovon sie sprach – man brauchte nur zu sehen, wie gut sie sich von ihren Niederlagen erholt und sich ein neues Leben aufgebaut hatte. Und wenn Vivien das konnte, dann konnte Dolly es auch. Sie hatte so viel gelitten, aber es gab noch so vieles, für das es sich zu leben lohnte – sie würde wieder Dinge finden, für die es sich zu leben lohnte. Jetzt musste sie tapfer sein und über sich hinauswachsen. Dolly hatte Dinge getan, für die sie sich heute schämte, ihre hochfliegenden Pläne waren nichts weiter gewesen als die romantischen Träume eines jungen Mädchens, die sich alle in Luft aufgelöst hatten. Aber jeder hatte eine zweite Chance verdient, jeder hatte Vergebung verdient, selbst sie – das hatte Vivien ihr versichert. »Gut, ich tu es«, sagte sie, während rundherum die Bomben einschlugen. »Ich werde es schon schaffen.«
    Die Glühbirne flackerte, erlosch jedoch nicht. Sie schaukelte an ihrem Kabel und ließ Schatten über die Wände tanzen, während Dolly ihren kleinen Koffer aus dem Schrank nahm. Sie achtete nicht auf den ohrenbetäubenden Lärm ringsum, auf den Rauch von den Bränden in der Straße, der durch die Ritzen ins Zimmer drang und ihre Augen tränen ließ.
    Es gab nicht viel, was sie einpacken musste. Sie hatte noch nie viel besessen. Bei dem Gedanken daran, dass sie Vivien zurücklassen musste, wurde ihr das Herz schwer. Sie erinnerte sich an die Widmung, die Vivien ihr in das Peter-Pan -Buch geschrieben hatte – Wahre Freundschaft ist ein Licht im Dunkel –, und wieder kamen ihr die Tränen.
    Aber sie hatte keine Wahl, sie musste fort. Die Zukunft bot ihr eine zweite Chance, ein neues Leben. Sie musste die Gelegenheit beim Schopf

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