Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Schaukel vorbei zu dem Baumhaus, dessen Boden zwischen dem Laub zu erkennen war. Auch die Leiter war immer noch da – an den Baumstamm genagelte Holzleisten, von denen einige schon seit vielen Jahren schief hingen. Jemand hatte an eine Sprosse eine Halskette aus glitzernden pink-und lilafarbenen Perlen gehängt, wahrscheinlich eine von Roses Enkelinnen, dachte Laurel.
An jenem Tag war Laurel sehr langsam die Leiter hinuntergeklettert.
Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, während sie sich ihren Erinnerungen hingab. Sie war aus ihrer Ohnmacht aufgeschreckt. Sofort musste sie an den Mann denken, an das Messer und das entsetzte Gesicht ihrer Mutter. Dann war sie zu der Leiter gekrochen.
Unten angekommen war sie noch eine Weile stehen geblieben, die Sprosse vor ihr mit beiden Händen umklammernd, die Stirn an die raue Borke des Baums gelehnt. Sie war mit schlaf wandlerischer Sicherheit unten angekommen, aber sie hatte keine Ahnung, wohin sie jetzt gehen oder was sie tun sollte. Ihr kam der absurde Gedanke, einfach zum Bach zu laufen, zu ihren Schwestern und ihrem kleinen Bruder und zu ihrem Vater mit seiner Klarinette und seinem verträumten Lächeln …
Vielleicht war ihr da aufgefallen, dass sie die anderen gar nicht mehr hörte.
Sie war zum Haus gelaufen, den Blick auf den Steinweg geheftet, der, heiß von der Sonne, unter ihren nackten Füßen brannte. Einmal hatte sie ganz kurz zur Seite geschaut und gemeint, etwas Großes, Weißes neben dem Blumenbeet zu sehen, etwas, das dort nicht hingehörte, doch sie hatte schnell wieder den Kopf gesenkt und war weitergelaufen, angetrieben von der verzweifelten kindlichen Hoffnung, dass sie, wenn sie nicht hinschaute und nichts sah, durch die Tür ins Haus schlüpfen könnte, und alles wäre wieder wie früher, alles wäre wieder gut.
Natürlich hatte sie unter Schock gestanden, aber so hatte es sich nicht angefühlt. Eine übernatürliche Ruhe umgab sie wie ein Umhang, wie ein magischer Umhang im Märchen, mit dem sich eine Figur fortzauberte, um bei ihrer Rückkehr sämtliche Bewohner des Schlosses schlafend vorzufinden.
Sie hob den Hula-Hoop-Reifen vom Boden auf, bevor sie das Haus betrat.
Drinnen herrschte eine unheimliche Stille. Die Sonne war bereits hinter dem Dach verschwunden, und in der Diele war es dunkel. Sie blieb in der offenen Tür stehen, bis ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Die Abflussrohre knisterten leise – wie immer nach einem heißen Tag; ein Geräusch, das für Sommer und Ferien und lange, warme Abende mit von Motten umschwirrten Lampen stand.
Sie schaute die mit einem Läufer ausgelegte Treppe hoch. Sie ahnte, dass ihre Schwestern nicht da waren. Die Standuhr in der Diele tickte laut, und einen Moment lang fragte sich Laurel, ob sie alle fort waren – Ma, Daddy und der Kleine – und sie allein gelassen hatten mit dem, was da draußen unter dem weißen Laken lag. Bei dem Gedanken lief es ihr eiskalt über den Rücken. Dann hörte sie im Wohnzimmer ein dumpfes Poltern. Sie drehte sich um, und da stand ihr Vater vor dem offenen Kamin. Er wirkte seltsam steif, eine Hand hing schlaff herunter, die andere lag zur Faust geballt auf dem Kaminsims. »Herrgott noch mal, meine Frau kann froh sein, dass sie noch lebt.«
Dann sagte eine Männerstimme irgendwo hinter der Tür: »Das verstehen wir, Mr. Nicolson, aber ich hoffe, Sie verstehen auch, dass wir nur unsere Arbeit tun.«
Auf Zehenspitzen schlich Laurel näher heran und blieb am Rand des Lichtbalkens stehen, der durch die offene Tür fiel. Ihre Mutter saß im Sessel, den Kleinen in den Armen. Er schlief. Laurel sah sein engelhaftes Gesicht, das Pausbäckchen, das sich an der Schulter ihrer Mutter platt drückte.
Zwei fremde Männer waren im Wohnzimmer, einer, mit einer Halbglatze, saß auf dem Sofa, und ein jüngerer Mann stand am Fenster und machte sich Notizen. Das waren Polizisten, schoss es ihr durch den Kopf. Natürlich war die Polizei da. Etwas Schlimmes war passiert. Das weiße Laken draußen im sonnigen Garten.
Der ältere Mann wandte sich an ihre Mutter: »Kannten Sie den Mann, Mrs. Nicolson? Oder haben Sie ihn schon einmal gesehen, und sei es auch nur flüchtig?«
Laurels Mutter antwortete nicht, jedenfalls nicht so, dass sie jemand hören konnte. Sie flüsterte in den Hinterkopf des Kleinen, ihre Lippen bewegten sich lautlos an seinem weichen Haar. Laurels Vater sprang für sie ein. »Natürlich nicht«, sagte er. »Sie hat Ihnen doch gesagt,
Weitere Kostenlose Bücher