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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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ist jede Menge Antioxidationsmittel drin.« Sie fand den Korkenzieher und rieb ihre schmutzigen Fingerspitzen aneinander. »Das ist gesund.«
    »Na ja … wenn du meinst.«
    Laurel entkorkte die Flasche und schenkte ein. Aus alter Gewohnheit hatte sie die drei Gläser dicht nebeneinandergestellt, wie um sicherzugehen, dass alle gleich viel bekamen. Sie musste über sich selbst lächeln. Wenn schon Reise in die Vergangenheit, dann richtig! Iris jedenfalls würde es gefallen. Gerechtig keit war immer ein großes Thema gewesen. Besonders für die mittleren Geschwister. Hör auf zu zählen, mein Schatz , hatte ihre Mutter oft gesagt. Niemand mag ein kleines Mädchen, das immer mehr haben will als die anderen .
    »Für mich nur einen winzigen Schluck«, sagte Rose vorsichtig. »Ich möchte nicht beschwipst sein, wenn Daphne kommt.«
    »Sie hat sich also gemeldet?« Laurel gab Iris das vollste Glas.
    »Kurz bevor wir vom Pflegeheim weggefahren sind – hab ich euch das nicht erzählt? Gott, mein Gedächtnis! Sie sagt, sie ist gegen sechs hier, falls sie nicht in einen Stau gerät.«
    »Dann sollte ich mir vielleicht mal Gedanken übers Abendessen machen«, bemerkte Iris. Sie öffnete die Vorratskammer, setzte sich auf einen Hocker und überprüfte die Haltbarkeitsdaten. »Wenn ich euch beiden das überlasse, gibt’s ja nur Toast und Tee.«
    »Ich helfe dir«, erbot sich Rose.
    »Nein, nein.« Iris winkte ab, ohne sich umzudrehen. »Das ist nicht nötig.«
    Rose schaute Laurel an, die ihr das Glas Wein reichte und auf die Tür zeigte. Es hatte keinen Zweck, sich mit Iris auf Diskussionen einzulassen. Das gehörte zum Familienskript: Iris übernahm immer das Kochen und sie fühlte sich immer ungerecht behandelt; und die anderen ließen sie gern leiden. Eine kleine Nettigkeit unter Schwestern.
    »Also gut, wenn du darauf bestehst«, sagte Laurel und goss sich noch etwas vom Pinot Grigio in ihr Glas.
    Während Rose im ersten Stock nachsah, ob Daphnes Zimmer in Ordnung war, ging Laurel mit ihrem Weinglas nach draußen. Der Regen hatte die Luft gereinigt, und sie atmete tief ein. Ihr Blick fiel auf die Gartenschaukel. Sie setzte sich darauf und bewegte die Bank mit den Absätzen leicht vor und zurück. Die Schaukel hatten sie ihrer Mutter alle zusammen zum achtzigsten Geburtstag geschenkt, und Dorothy hatte sofort erklärt, sie müsse unter der alten Eiche stehen. Niemand hatte sie darauf hingewiesen, dass man von anderen Stellen im Garten einen viel schöneren Ausblick hatte. Außenstehenden mochte die Aussicht auf die leere Wiese langweilig erscheinen, aber die Nicolson-Schwestern wussten, dass die Eintönigkeit täuschte. Irgendwo zwischen den sich im leichten Wind wiegenden Grashalmen befand sich die Stelle, an der ihr Vater tot umgefallen war.
    Erinnerungen können trügen. Ihre Erinnerung versetzte die junge Laurel von damals an genau diese Stelle an jenem Nachmittag, wie sie, die Augen mit der Hand beschirmend, Ausschau nach ihrem Vater hielt, der nach getaner Arbeit heimkehrte, darauf wartend, dass sie ihm entgegengelaufen kam und sich bei ihm unterhakte, um mit ihm zusammen zum Haus zu gehen. In ihrer Erinnerung sah sie, wie er über die Wiese ging, wie er stehen blieb, um in den Sonnenuntergang zu schauen, wie er den rosafarbenen Wolkenstreifen am Horizont bewunderte, den er für gewöhnlich mit »Abendrot – Schönwetterbot« zu kommentieren pflegte, wie sein Körper plötzlich erstarrte und er nach Luft schnappte, wie er sich mit der Hand an die Brust griff, wie er stolperte und stürzte.
    Aber so war es nicht gewesen. Als es passierte, war sie am anderen Ende der Welt gewesen, nicht sechzehn, sondern sechsundfünfzig Jahre alt, und gerade dabei, sich für eine Filmpreisgala in Los Angeles zurechtzumachen, während sie sich gefragt hatte, ob sie wohl die Einzige unter den Anwesenden sein würde, deren Gesicht nicht geliftet und mit Botox geglättet war. Sie hatte erst vom Tod ihres Vaters erfahren, als sie eine Nachricht von Iris auf ihrer Mailbox abgehört hatte.
    Nein, es war ein anderer Mann gewesen, den sie hatte stürzen und sterben sehen, als sie sechzehn war.
    Laurel zündete sich mit einem Streichholz eine Zigarette an. Stirnrunzelnd betrachtete sie den Horizont, während sie die Schachtel wieder in ihre Tasche steckte. Haus und Garten lagen noch im Sonnenlicht, aber die Felder jenseits der Wiese, näher am Wald, waren schon von Schatten bedeckt. Sie schaute nach oben, an dem schmiedeeisernen Gestänge der

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