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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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aufgegeben?« Sie musste an die Krokodilgeschichte denken, die ihre Mutter ihr erzählt hatte. Diese Art Metamorphose war genau das, was sie mit der Geschichte hatte andeuten wollen, oder? Eine Verwandlung der jungen Dolly im kriegsgeschüttelten London in Dorothy Nicolson, wohnhaft in Greenacres.
    »Ja.«
    »Geht so etwas?«
    Gerry zuckte die Schultern. »Ganz offensichtlich. Ma ist der Beweis.«
    Laurel schüttelte ungläubig den Kopf. »Ihr Wissenschaftler glaubt alles, sobald ihr irgendeinen Beweis habt.«
    »Na klar. Dafür sind Beweise da.«
    »Aber wie …« – Laurel war noch nicht zufrieden – » wie ist sie diese narzisstischen Züge losgeworden?«
    »Na ja, wenn wir den Theorien unseres Freundes Lionel Rufus folgen, sieht es so aus, dass manche Leute auf die Dauer eine richtige Persönlichkeitsstörung entwickeln, während andere den narzisstischen Neigungen ihrer Jugend irgendwann entwachsen. In Mas Fall jedoch kommt seine Theorie zum Tragen, dass ein schwerwiegendes traumatisches Ereignis – Schock, der Tod eines Angehörigen, Verzweiflung –, etwas, das außerhalb der unmittelbaren Sphäre der narzisstischen Person stattfindet, in manchen Fällen eine heilende Wirkung haben kann.«
    »Du meinst, es bringt denjenigen zurück auf den Boden der Wirklichkeit? Es bringt ihn dazu, nach außen anstatt nach innen zu schauen?«
    »So ist es.«
    Es war genau das, was sie an dem Abend in Cambridge vermutet hatten: dass ihre Mutter in etwas verwickelt gewesen war, das ein schreckliches Ende genommen und einen besseren Menschen aus ihr gemacht hatte.
    »Ich schätze, es ist genauso wie bei allen anderen Menschen auch«, sagte Gerry. »Man wächst mit den Anforderungen, die einem das Leben stellt.«
    Laurel nickte nachdenklich und drückte ihre Zigarette aus. Gerry steckte sein Notizheft wieder ein. Es sah so aus, als wären sie in einer Sackgasse gelandet. Doch dann fiel Laurel etwas ein. »Du hast gesagt, dass Dr. Rufus sich mit dem Thema Fantasie als Schutzmechanismus beschäftigt hat. Als Schutz wogegen, Gerry?«
    »Alles Mögliche. Aber vor allem glaubte Dr. Rufus, dass Kinder, die von ihren Eltern keine Wärme erfahren, denen das Gefühl vermittelt wird, anders zu sein, nicht dazuzugehören, ganz besonders dazu neigen, narzisstische Züge als eine Form des Selbstschutzes zu entwickeln.«
    Laurel erinnerte sich daran, wie ungern ihre Mutter über ihre Kindheit und ihre Familie in Coventry gesprochen hatte. Laurel hatte das immer akzeptiert, weil ihre Mutter anscheinend nie über den Tod ihrer Familie hinweggekommen war. Jetzt fragte sie sich, ob ihr Schweigen auch noch einen anderen Grund gehabt haben könnte. Ich habe mir immer Ärger eingehandelt, als ich jung war , hatte ihre Mutter häufig gesagt (meistens, wenn Laurel sich irgendetwas hatte zuschulden kommen lassen). Ich hatte immer das Gefühl, anders zu sein als meine Eltern, ich glaube, sie wussten nie so recht, was sie mit mir anfangen sollten . Was, wenn die junge Dorothy Smitham zu Hause immer unglücklich gewesen war? Was, wenn sie sich ihr Leben lang als Außenseiterin gefühlt hatte, wenn ihre Einsamkeit sie dazu getrieben hatte, sich eine Fantasiewelt auszudenken, in dem verzweifelten Versuch, die Leere in ihrem Innern zu füllen? Was, wenn alles furchtbar schiefgelaufen war, wenn ihre Träume zerplatzt waren und sie damit hatte leben müssen, bis sie schließlich eine zweite Chance bekommen hatte, eine Gelegenheit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und von vorn anzufangen und diesmal der Mensch zu werden, der sie immer hatte sein wollen, Teil einer großen Familie, die sie liebte?
    Kein Wunder, dass sie so panisch reagiert hatte, als Henry Jenkins nach all den Jahren bei ihr zu Hause aufgetaucht war. Wahrscheinlich sah sie ihn als den Zerstörer ihrer Träume an, und sein Erscheinen hatte die Vergangenheit mit der Gegenwart auf albtraumhafte Weise kollidieren lassen. Vielleicht war es der Schock gewesen, der sie dazu gebracht hatte, das Messer zu heben. Schock, gemischt mit Angst, die Familie zu verlieren, die ihr Ein und Alles war. Es half Laurel nicht, das Erlebte leichter zu nehmen, aber es trug zumindest dazu bei, es begreiflicher zu machen.
    Aber was war das »traumatische Ereignis« gewesen, das ihre Mutter so verändert hatte? Es musste etwas zu tun haben mit Vivien, mit dem geheimnisvollen Plan, darauf hätte Laurel ihr Leben verwettet. Aber was genau? Gab es irgendeine Möglichkeit, mehr herauszufinden, als sie bereits wussten?

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