Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
– Sternchen tanzten vor ihren Augen. Sie holte tief Luft und stand mühsam auf. Erleichtert stellte sie fest, dass sie gehen konnte. Als sie in den Spiegel schaute, konnte sie kaum glauben, was sie sah: eine Gesichtshälfte war mit getrocknetem Blut bedeckt, und das Auge war halb zugeschwollen. Vorsichtig und unter Schmerzen drehte sie den Kopf. Die geschwollenen Stellen waren noch nicht blau. Morgen würde sie noch viel schlimmer aussehen.
Je länger sie aufrecht stehen blieb, umso besser konnte sie die Schmerzen aushalten. Die Zimmertür war abgeschlossen, aber Vivien besaß einen geheimen Schlüssel. Langsam ging sie zu dem kleinen Safe hinter dem Porträt ihrer Großmutter, konzentrierte sich, um sich an die Kombination zu erinnern, und drehte an dem Rädchen. Sie musste an den Tag wenige Wochen vor ihrer Hochzeit denken, als ihr Onkel mit ihr nach London gefahren war, um sie den Anwälten der Familie vorzustellen und ihr das Haus zu zeigen. Die Haushälterin hatte sie beiseitegenommen, als sie einen Moment lang allein in ihrem Zimmer gewesen waren, und hatte ihr den Safe hinter dem Porträt gezeigt. »Eine Lady braucht einen Platz für ihre Geheimnisse«, hatte sie geflüstert, und obwohl ihr der indiskrete Blick der alten Frau nicht gefallen hatte, war sie dankbar für den Hinweis gewesen.
Der Safe ging auf, und sie nahm den Schlüssel heraus, den sie sich nach dem letzten Vorfall hatte anfertigen lassen. Auch das Foto, das Jimmy ihr geschenkt hatte, nahm sie an sich. Seltsam, aber es beruhigte sie, es bei sich zu tragen. Dann verschloss sie den Safe und rückte das Porträt wieder gerade.
Sie fand den Brief auf Henrys Schreibtisch. Er hatte ihn nicht einmal versteckt. Der Brief war an Vivien adressiert und vor zwei Tagen abgestempelt. Henry öffnete immer ihre Post – und genau das war der fatale Fehler in Dollys Plan gewesen.
Vivien wusste, was in dem Brief stand, trotzdem pochte ihr Herz, als sie ihn überflog. Wie sie erwartet hatte, war der Brief in beinahe freundlichem Ton geschrieben. Zum Glück hatte die dumme Gans wenigstens nicht mit ihrem Namen unterschrieben, sondern nur »Eine Freundin« unter den Text gesetzt.
Als sie das Foto betrachtete, kämpfte sie mit den Tränen. Erinnerungen an kostbare Momente in Dr. Tomalins Dachgeschoss kamen hoch, an Jimmy, daran, wie er ihr das Gefühl gegeben hatte, es könnte doch noch eine glückliche Zukunft für sie geben … Aber sie weinte nicht. Sie wusste besser als jeder andere, dass es kein Zurück gab.
Als Vivien den Umschlag umdrehte, blieb ihr vor Schreck beinahe das Herz stehen, denn dort stand: Eine Freundin, 24 Rillington Place, Notting Hill .
Vivien versuchte zu rennen, aber die Kopfschmerzen waren zu arg, und sie musste an jeder Straßenlaterne stehen bleiben und sich einen Moment lang festhalten, während sie durch die dunk len Straßen nach Notting Hill ging. Zu Hause hatte sie sich nur kurz das Gesicht gewaschen, das belastende Foto versteckt und hastig einen Brief geschrieben, den sie in den ersten Briefkasten auf ihrem Weg geworfen hatte. Jetzt blieb ihr nur noch eins zu tun, ihr letzter Akt der Buße, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.
Nachdem sie das begriffen hatte, war alles in leuchtender Klarheit erstrahlt. Vivien hatte ihre Verzweiflung abgeworfen wie einen alten Mantel und war auf das Licht zugegangen. Eigentlich war es ganz einfach. Sie hatte den Tod ihrer Familie verschuldet, sie hatte Jimmys Tod verschuldet, aber jetzt würde sie Dolly Smitham retten. Erst dann würde sie zum Serpentine-See gehen und ihre Taschen mit Steinen füllen. Vivien sah das Ende nahen, und es erfüllte sie mit einem Hochgefühl.
Meine kleine Rennmaus hatte ihr Vater sie immer genannt. Ihre Schläfen pochten, aber Vivien war immer gut zu Fuß gewesen, und sie würde nicht aufgeben. Sie stellte sich vor, sie wäre ein Wallaby, das durch den Busch hüpfte, ein Dingo, der durch das Unterholz schlich, eine Echse, die durch die Dunkelheit glitt …
Aus der Ferne waren Flugzeuge zu hören, und Vivien schaute in den nachtschwarzen Himmel empor. Sollten sie kommen und ihre Bomben abwerfen. Aber noch nicht, noch nicht, sie musste zuerst noch etwas erledigen.
Es war stockdunkel am Rillington Place, und Vivien hatte keine Taschenlampe dabei. Sie suchte verzweifelt nach der richtigen Nummer, als hinter ihr eine Tür zugeschlagen wurde. Dann sah sie eine Gestalt aus einem Haus in der Nähe kommen.
Vivien rief: »Verzeihung!«
»Ja?«, antwortete eine
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