Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
Vom Netzwerk:
müssen sich irren. Ich habe ihn gestern getroffen, und ich bin auch heute Abend mit ihm verabredet. Wir wollen zusammen von hier fort. Er würde nie ohne mich gehen …«
    Sie hatte nicht begriffen, und Vivien versuchte nicht, es ihr zu erklären, denn plötzlich war sie von Mitgefühl überwältigt. Natürlich begriff Dolly nicht, egal was Vivien jetzt sagte, ihre Worte würden angesichts von Dollys Ungläubigkeit wie Schnee flocken in der Sonne schmelzen. Vivien wusste nur zu gut, wie es war, eine solche Botschaft zu erhalten, aus heiterem Himmel zu erfahren, dass die Menschen, die man am meisten liebte, tot waren.
    Doch dann dröhnte ein Flugzeug über sie hinweg, ein Bomber, und Vivien wusste, dass sie keine Zeit hatte für Mitleid, dass sie Dolly begreiflich machen musste, dass sie die Wahrheit sagte, dass Dolly sofort aufbrechen musste, wenn sie ihr Leben retten wollte. »Henry«, sagte Vivien, »mein Mann … ich weiß, er wirkt nicht so, aber er ist ein sehr eifersüchtiger Mann, ein gewalttätiger Mann. Deswegen musste ich an dem Tag damals dafür sorgen, dass Sie so schnell wie möglich aus dem Haus kamen, Dolly, an dem Tag, als Sie mir das Medaillon gebracht haben. Er duldet es nicht, dass ich Freundschaften schließe …« Irgendwo in der Nähe gab es eine gewaltige Explosion, und ein zischendes Geräusch ertönte direkt vor dem Haus. Vivien zögerte, jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte. Dann fuhr sie fort. Sie sprach jetzt schneller, bestimmter, hielt sich an das Wesentliche. »Er hat Ihren Brief geöffnet und gelesen. Er hat das Foto gesehen, und er fühlte sich gedemütigt. Sie haben ihn wie einen Hahnrei dastehen lassen, Dolly, und deswegen hat er seine Leute losgeschickt, um die Sache in Ordnung zu bringen. So sieht er das: Er hat seine Leute beauftragt, um Sie und Jimmy zu bestrafen.«
    Dollys Gesicht war kreidebleich geworden. Sie war schockiert, das war klar, aber Vivien wusste, dass sie ihr zuhörte, denn Tränen liefen ihr über die Wangen. »Jimmy hatte mich gebeten, ihn heute um zwei Uhr in einem Café zu treffen, aber er ist nicht gekommen«, fuhr Vivien fort. »Sie kennen Jimmy, Dolly, er hätte mich niemals versetzt, nicht wenn er versprochen hat, zu kommen … Also bin ich nach Hause gegangen, und Henry war da, und er war wütend, furchtbar wütend.« Ihre Hand wanderte gedankenverloren zu ihrem schmerzenden Kiefer. »Er hat mir gesagt, was passiert ist, dass seine Leute Jimmy getötet haben, weil er mir zu nahegekommen ist. Ich konnte mir zuerst nicht erklären, woher er das wusste, aber dann habe ich Ihren Brief gefunden. Er hatte ihn geöffnet, und er hat das Foto von Jimmy und mir gesehen. Es ist alles schiefgegangen, verstehen Sie – Ihr Plan ist auf schreckliche Weise schiefgegangen.«
    Als Vivien den Plan erwähnte, packte Dolly sie mit weit aufgerissenen Augen am Arm und flüsterte: »Aber ich weiß nicht, wie … das Foto … Wir hatten doch beschlossen, es nicht zu tun, es war nicht nötig, nicht mehr.« Sie sah Vivien in die Augen und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das habe ich alles nicht so geplant. Und jetzt ist Jimmy …«
    Vivien winkte ab. Ob Dolly vorgehabt hatte, den Brief mit dem Foto abzuschicken oder nicht, spielte keine Rolle mehr. Sie war nicht hergekommen, um Dolly mit Vorwürfen zu konfrontieren. Die Zeit reichte nicht für Schuldzuweisungen. So Gott wollte, würde Dolly später noch genug Zeit für Reue haben. »Hören Sie zu«, sagte sie. »Es ist sehr wichtig, dass Sie mir zuhören. Die wissen, wo Sie wohnen, und sie werden Sie holen.«
    »Es ist meine Schuld«, sagte Dolly mit tränenerstickter Stimme. »Es ist alles meine Schuld.«
    Vivien nahm Dollys schmale Hände. Dollys Trauer war echt, sie war nur natürlich, aber sie war jetzt nicht hilfreich. »Dolly, bitte! Es ist ebenso meine Schuld wie Ihre.« Sie sprach lauter, um sich bei dem Lärm der Bomber Gehör zu verschaffen. »Das alles spielt jetzt keine Rolle. Sie kommen. Wahrscheinlich sind sie schon auf dem Weg hierher. Deswegen bin ich hier.«
    »Aber ich …«
    »Sie müssen London verlassen, jetzt gleich, und Sie dürfen nicht zurückkommen. Diese Leute werden nicht aufhören, Sie zu suchen, niemals …« Eine Explosion erschütterte das Haus; die Bomben schlugen jetzt ganz in der Nähe ein. Dollys Augen waren vor Angst geweitet. Der Lärm war ohrenbetäubend – das Pfeifen, wenn die Bomben fielen, die Explosionen, wenn sie einschlugen, das Feuer der Flakgeschütze. Vivien musste

Weitere Kostenlose Bücher