Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
schreien, um sich verständlich zu machen, als sie Dolly fragte, ob sie Angehörige oder Freunde habe, ob es irgendeinen Ort gebe, wo sie sich in Sicherheit bringen konnte. Aber Dolly antwortete nicht. Sie schüttelte nur den Kopf und weinte hilflos, die Hände vors Gesicht geschlagen. Da erinnerte sich Vivien an das, was Jimmy ihr über Dollys Familie erzählt hatte. Damals hatte sie tiefes Mitgefühl für Dolly empfunden, weil sie das gleiche Schicksal erlitten hatte wie sie selbst.
»Denken Sie nach«, flehte sie Dolly an. »Sie müssen nachdenken!«
Es kamen immer mehr Flugzeuge, am Himmel tobte eine Luftschlacht, und Flugabwehrgeschütze feuerten, was das Zeug hielt. Vivien dröhnte der Kopf von dem Lärm, sie stellte sich die Flugzeuge vor, die über sie hinwegflogen, und ihr war, als könnte sie sie durch die Zimmerdecke und das Dach hindurch sehen. »Dolly!«, schrie sie.
Dolly hatte die Augen geschlossen. Obwohl die Bomben um sie herum einschlugen und Flugzeuge über sie hinwegdröhnten, hellte sich ihre Miene plötzlich auf, dann hob sie unvermittelt den Kopf und sagte: »Ich habe mich um eine Stelle beworben. Vor ein paar Wochen. Jimmy hat sie für mich gefunden …« Sie nahm ein Blatt Papier von ihrem Nachttisch und gab es Vivien.
Vivien überflog das Schreiben, in dem Miss Dorothy Smitham eine Stelle in einer Pension namens »Sea Blue« angeboten wurde. »Ja«, sagte sie. »Perfekt. Fahren Sie sofort dorthin!«
»Aber ich will nicht allein dahin. Wir …«
»Dolly!«
»Wir wollten zusammen dahin. So war es nicht geplant. Er wollte auf mich warten.«
Erneut brach sie in Tränen aus. Einen Moment lang ließ Vivien sich von Dollys Trauer und Schmerz anstecken. Die Versuchung war groß, einfach aufzugeben und alles loszulassen, unterzutauchen … Aber das würde nichts nützen, sie wusste, sie musste jetzt tapfer sein. Jimmy war bereits tot, und Dolly würde es auch bald sein, wenn sie nicht bald auf Vivien hörte. Henry würde keine Zeit vergeuden. Wahrscheinlich waren seine Häscher schon auf dem Weg hierher. In ihrer Not verpasste sie Dolly eine Ohrfeige. Es funktionierte, denn Dolly unterdrückte ihren nächsten Schluchzer und hielt sich die Wange. »Dorothy Smitham«, sagte Vivien streng. »Sie müssen London verlassen, und Sie dürfen keine Zeit verlieren!«
Dolly schüttelte den Kopf. Sie hatte einen Schluckauf. »Ich fürchte, ich kann das nicht.«
»Ich weiß, dass Sie das können. Sie sind eine Überlebenskünstlerin.«
»Aber Jimmy …«
»Genug.« Sie packte Dolly am Kinn und zwang sie, sie anzusehen. »Sie haben Jimmy geliebt, das weiß ich …« Ich habe ihn auch geliebt . »Aber Sie müssen jetzt auf mich hören.«
Dolly schluckte und nickte mit tränennassen Augen.
»Gehen Sie zum Bahnhof und kaufen Sie sich eine Fahrkarte. Steigen Sie …« Die Glühbirne flackerte, als eine weitere Bombe mit ohrenbetäubendem Getöse einschlug. Dolly riss die Augen auf, aber Vivien blieb ruhig und hielt weiterhin Dollys Kinn fest. »Steigen Sie in den Zug und fahren Sie bis zur Endstation. Schauen Sie nicht zurück. Nehmen Sie die Stelle an, und führen Sie ein glückliches Leben.«
Dollys Blick hatte sich geändert, während Vivien auf sie eingeredet hatte. Er war jetzt klarer, und Vivien sah, dass sie ihr endlich zuhörte, dass sie jedes Wort verstand und dass sie endlich begriffen hatte.
»Sie müssen von hier fort. Lassen Sie sich die Gelegenheit nicht entgehen, betrachten Sie es als eine zweite Chance. Nach allem, was Sie durchgemacht haben, nach allem, was Sie verloren haben.«
»Ja«, sagte Dolly. »Das werde ich.« Sie stand auf, holte einen kleinen Koffer aus dem Schrank hervor und begann, ihre Sachen zu packen.
Vivien tränten die Augen vor Erschöpfung. Sie war bereit für das Ende. Sie war schon so lange bereit. Draußen war der Himmel voller Flugzeuge; die Flakgeschütze feuerten, und Suchscheinwerfer durchschnitten das Dunkel der Nacht. Bomben fielen, und die Erde bebte so stark, dass sie es unter ihren Füßen spüren konnten.
»Und Sie?«, fragte Dolly, während sie ihren Koffer zuklappte. Sie stand auf und streckte die Hand aus, um das Schreiben von der Pension wieder an sich zu nehmen.
Vivien lächelte. Ihr ganzes Gesicht tat ihr weh, und sie war todmüde. Sie spürte, wie sie im Wasser versank, den blinkenden Lichtern entgegentrieb. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Mir wird nichts passieren. Ich gehe nach Hause.«
Während sie das sagte, gab es eine gewaltige
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