Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Umdenken zu bewegen, aber Vivien war stur geblieben. Das war ihre Buße, es war das, was sie verdient hatte. Wegen ihrer Fäuste war sie damals bestraft worden, wegen ihrer Fäuste hatte sie zu Hause bleiben müssen, wegen ihrer Fäuste hatte ihre Familie sich vorzeitig auf den Heimweg gemacht und war in den Tod gestürzt.
Überall um sie herum Wasser; sie befand sich im Tunnel, tauchte tiefer und tiefer, schwamm mit kräftigen Zügen nach Hause …
Es machte Vivien nichts aus, bestraft zu werden. Sie fragte sich nur, wann es vorbei sein würde. Wann er sie umbringen würde. Denn das würde er eines Tages tun, davon war sie überzeugt. Vivien hielt den Atem an, wartete, hoffte, dass es jetzt endlich passieren würde. Denn jedes Mal, wenn sie aufwachte und sich in dem Haus in der Campden Grove wiederfand, war ihre Verzweiflung noch größer.
Das Wasser war jetzt wärmer; sie näherte sich ihrem Ziel. In der Ferne funkelten die ersten Lichter. Vivien schwamm auf sie zu …
Was würde passieren, wenn er sie tötete? Wie sie Henry kannte, würde er Mittel und Wege finden, die Schuld einem anderen in die Schuhe zu schieben. Oder er würde es so darstellen, als wäre es ein Unfall gewesen – ein unglücklicher Sturz, eine Bombe, die sie erwischt hatte. Sie sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, würden die Leute kopfschüttelnd sagen, und Henry würde in seiner Rolle als liebender, trauernder Ehemann aufgehen. Wahrscheinlich würde er ein Buch darüber schreiben, mit einer Fantasie-Vivien als Hauptperson wie in der Widerspenstigen Muse , wo eine gefügige junge Frau beschrieben wurde, die ihren Mann, einen berühmten Schriftsteller, anbetete und ansonsten an nichts anderes dachte als an schöne Kleider und elegante Abendgesellschaften.
Die Lichter waren jetzt heller, sie näherte sich ihnen, sie konnte schimmernde Muster erkennen. Aber sie schaute weiter in die Tiefe, denn das, was sie suchte, lag hinter den Lichtern …
Das Zimmer kippte. Henry war fertig. Er hob sie auf. Sie konnte sich nicht mehr rühren und hing schlaff wie ein nasser Sack in seinen Armen. Sie sollte es selbst tun . Ihre Taschen mit Steinen oder Ziegeln, irgendetwas Schwerem, füllen, in den Serpentine-See gehen, einen Schritt nach dem anderen, bis sie die Lichter sah.
Er küsste sie, bedeckte nach und nach ihr ganzes Gesicht mit nassen Küssen. Er keuchte, stank nach Pomade und Alkohol und Schweiß. »Schsch«, sagte er. »Ich liebe dich, das weißt du … aber du machst mich so wütend … Du darfst mich einfach nicht so wütend machen.«
Winzige Lichter, so viele Lichter, und dahinter Pippin. Er drehte sich zu ihr um, und zum ersten Mal schien er sie zu sehen …
Henry trug sie die Treppe hoch, ein grausamer Bräutigam mit seiner Braut, dann legte er sie zärtlich aufs Bett. Sie konnte es selbst tun . Das war ihr plötzlich klar. Sie selbst, Vivien, konnte ihm nehmen, was er am meisten zu verlieren fürchtete. Er zog ihr die Schuhe aus und ordnete ihr Haar, sodass es gleichmäßig über beide Schultern fiel. »Dein Gesicht«, sagte er traurig, »dein schönes Gesicht.« Er küsste ihre Hand und legte sie ab. »Ruh dich aus«, sagte er. »Wenn du aufwachst, wirst du dich besser fühlen.« Er beugte sich über sie, bis seine Lippen beinahe ihr Ohr berührten. »Und mach dir keine Sorgen um Jimmy Metcalfe. Ich habe ihn beseitigen lassen. Er ist tot und verrottet am Grund der Themse. Er wird nie wieder zwischen uns treten.« Schwere Schritte. Die Tür wurde zugezogen. Der Schlüssel wurde im Schloss gedreht.
Pippin hob eine Hand, halb zum Gruß und halb lockend, und Vivien ging auf ihn zu …
Eine Stunde später wachte sie in ihrem Zimmer in der Campden Grove Nr. 25 auf. Das Licht der Nachmittagssonne fiel durch das Fenster auf ihr Gesicht. Vivien machte die Augen sofort wieder zu. Sie hatte pochende Kopfschmerzen hinter den Schläfen, in den Augenhöhlen, im Nacken. Sie lag reglos da wie ein Stein und versuchte sich zu erinnern, was geschehen war und warum ihr alles wehtat.
Die Erinnerung kam in Wellen, wie immer vermischt mit Bildern ihres Traums von der Erlösung im Wasser. Diese Erinnerungen waren am schwersten zu ertragen – die diffusen Eindrücke des vollkommenen Wohlbefindens, der tiefen Sehnsucht – verschwommener als normale Erinnerungen und zugleich so viel intensiver.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob sie sich langsam, versuchte, den Schaden zu begutachten. Das gehörte zum Ablauf; Henry erwartete, dass sie sich
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