Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
dass sie den Mann noch nie gesehen hat. Wenn Sie mich fragen, dann sollten Sie sein Gesicht mal mit dem Kerl in der Zeitung vergleichen, der sich in der Gegend herumtreibt und die Leute belästigt.«
»Wir werden jede Spur verfolgen, Mr. Nicolson, darauf kön nen Sie sich verlassen. Aber im Moment liegt ein Toter in Ihrem Garten, und nur Ihre Frau kann uns sagen, wie er dahin gekommen ist.«
Laurels Vater wurde lauter. »Der Mann hat meine Frau angegriffen! Es war Notwehr!«
»Haben Sie gesehen, wie es passiert ist, Mr. Nicolson?«
Die Stimme des Polizisten klang gereizt, und das machte Laurel Angst. Sie wich einen Schritt zurück. Sie wussten nicht, dass sie dort war. Und sie brauchten es auch nicht zu erfahren. Sie konnte sich nach oben schleichen, darauf achten, dass sie im Flur nicht auf die quietschende Diele trat, und sich in ihr Bett verkriechen. Sollten sie doch da im Wohnzimmer ihre rätselhaften Erwachsenenprobleme lösen. Sie würde einfach wiederkommen, wenn alles geregelt war …
»Ich habe Sie gefragt, ob Sie dabei waren, Mr. Nicolson. Haben Sie gesehen, wie es passiert ist?«
… aber Laurel fühlte sich unwiderstehlich angezogen von dem hell erleuchteten Zimmer, das einen so starken Kontrast bildete zu der dunklen Diele, von der seltsamen Szene, der Aura von Wichtigkeit, die ihr Vater mit seiner festen Stimme, seiner angespannten Haltung ausstrahlte. Sie verspürte oft dieses Verlangen, beteiligt zu werden, mitzuhelfen, mitzureden bei wichtigen Entscheidungen, auch wenn sie nicht darum gebeten worden war. Manchmal konnte sie kaum einschlafen, aus Angst, etwas zu verpassen.
Sie stand unter Schock. Sie konnte jetzt nicht allein sein. Sie kam nicht dagegen an. Was auch immer hier gespielt wurde …
Laurel trat aus dem Schatten ins Bühnenlicht. »Ich war da«, sagte sie. »Ich habe ihn gesehen.«
Ihr Vater schaute sie entsetzt an. Er warf einen kurzen Blick zu seiner Frau, dann wandte er sich wieder Laurel zu. Seine Stimme klang anders, als er sprach, rau und gehetzt und fast wie ein Zischen. »Laurel, du hast hier nichts verloren.«
Alle Augen waren auf sie gerichtet. Laurel wusste, was sie als Nächstes sagte, würde sehr wichtig sein. Sie wich dem Blick ihres Vaters aus und begann. »Der Mann ist um das Haus herumgekommen. Er hat versucht, meiner Mutter den Kleinen aus den Armen zu reißen.« Das hatte er doch, oder? Sie war sich ganz sicher, dass sie es gesehen hatte.
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Laurel …«
Sie sprach jetzt schneller, bestimmter. (Warum auch nicht? Schließlich war sie kein Kind mehr, das sich ins Bett verkroch und abwartete, bis die Erwachsenen alles geregelt hatten; sie gehörte dazu; sie hatte etwas zu sagen; etwas wirklich Wichtiges.) Der Scheinwerfer war auf sie gerichtet, und Laurel sah dem älteren Polizisten in die Augen. »Sie haben miteinander gekämpft. Ich hab’s gesehen. Der Mann hat meine Mutter angegriffen und dann … und dann ist er gefallen.«
Eine Minute lang sagte niemand etwas. Laurel schaute ihre Mutter an, die nicht mehr in die Haare des Kleinen flüsterte, sondern über seinen Kopf hinweg einen Punkt hinter Laurels Schulter anstarrte. Jemand hatte Tee gemacht. Dieses Detail würde Laurel ihr Lebtag nicht vergessen. Jemand hatte Tee gemacht, aber niemand hatte davon getrunken. Die Tassen standen unberührt an verschiedenen Stellen, eine auf der Fensterbank. Die Uhr in der Diele tickte.
Der Mann mit der Halbglatze auf dem Sofa beugte sich vor und räusperte sich. »Du heißt also Laurel?«
»Ja, Sir.«
Ihr Vater atmete tief aus; es hörte sich an wie ein Ballon, aus dem die Luft entwich. Er zeigte in Laurels Richtung und sagte: »Meine Tochter.« Er klang erschöpft. »Meine Älteste.«
Der Mann auf dem Sofa musterte sie, dann verzogen seine Lippen sich zu einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Er sagte: »Komm herein, Laurel. Setz dich und fang ganz von vorne an. Erzähl uns alles, was du gesehen hast.«
5
L aurel sagte dem Polizisten die Wahrheit. Sie nahm vorsichtig am anderen Ende des Sofas Platz, sah fragend ihren Vater an, der widerstrebend signalisierte, dass sie dem Mann antworten solle. Also begann sie zu beschreiben, was sich im Lauf des Nachmittags ereignet hatte. Alles, was sie gesehen hatte, genauso, wie es sich zugetragen hatte. Sie hatte im Baum haus gesessen und gelesen und hatte ihre Lektüre unterbrochen, um den Mann zu beobachten.
»Warum hast du ihn beobachtet? Hatte er etwas Ungewöhnliches an sich?«
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